Deutsche Ukraine-Politik – Ein Versagen in Reinform

Er ist zweifellos der gefährlichste Konflikt in Europa, und zudem einer der brisantesten in der aktuellen geopolitischen Lage: der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine, der mit dem Aufmarsch von über 100.000 russischen Soldaten an der ukrainischen Grenze in eine neue akute Phase eingetreten ist. Deutschland spielt als eines der wichtigsten Länder in der EU und in der NATO eine besondere Rolle in diesem Konflikt. Doch leider versagt die deutsche Außenpolitik derzeit dabei, den drohenden Krieg abzuwenden und Sicherheit und Frieden auf dem europäischen Kontinent sicherzustellen. Wolfgang Ischinger, einer der erfahrensten deutschen Diplomaten und Chef der Münchener Sicherheitskonferenz, drückt die deutsche Blamage treffend in einem Tweet aus:

In diesem Artikel möchte ich zunächst skizzieren, weshalb die deutsche Ukraine-Politik so fatal ist. Anschließend werde ich mich mit den Folgen dieser Politik auseinandersetzen, bevor ich schließlich beschreibe, wie unsere Außenpolitik in der Ukraine-Frage künftig aussehen muss.

1. Die Defizite der deutschen Ukraine-Politik

Es ist ja richtig: Die Ukraine ist weder Mitglied der NATO noch der EU. Trotzdem ist Deutschland insbesondere aufgrund der geografischen Nähe, seiner Geschichte, eigenen Interessen sowie der eindeutigen Verteilung von Täter- und Opferrollen in diesem Konflikt moralisch und strategisch dazu verpflichtet, der Ukraine in ihrer Auseinandersetzung mit dem Aggressor Russland beizustehen. Doch von echter, über Lippenbekenntnisse und das typisch-deutsche unvermeidliche „Zeichen setzen“ hinausgehender Solidarität mit der Ukraine gibt es kaum eine Spur. Stattdessen tut Deutschland gerade vieles, um die Position der Ukraine zu schwächen und diejenige Russlands zu stärken:

a) Die Inbetriebnahme der unsäglichen Gaspipeline Nord Stream II (eine ausführliche Auseinandersetzung meinerseits mit der Pipeline hier) ist immer noch nicht ausgeschlossen worden. Die Pipeline ist ein hervorragendes Druckmittel der russischen Regierung, um Polen und die Ukraine als Transitländer für Erdgas auszuschalten oder diesen Ländern gar komplett des Gashahn abzudrehen.

Außenministerin Annalena Baerbock (2021)
Quelle: Sandro Halank / CC BY SA 4.0

b) Außenministerin Annalena Baerbock hat ebenso wie andere deutsche Stellen wiederholt die Lieferung dringend benötigter Verteidigungswaffen an die Ukraine abgelehnt. Dabei berufen Baerbock und Andere sich auf die „schwierige deutsche Geschichte“, womit Deutschlands Verbrechen während des Zweiten Weltkrieges gemeint sein sollen. Ein offensichtlicheres Herausmogeln aus historischer Verantwortung hat man selten erlebt. Im Klartext bedeutet die offizielle deutsche Haltung nämlich Folgendes: Im Zweiten Weltkrieg haben die Deutschen unter anderem die Ukraine (damals Teilstaat der Sowjetunion) völkerrechtswidrig überfallen und verwüstet. Daraus ziehen wir heute die Lehre, der Ukraine keine deutschen Waffen zu liefern, um sich gegen eine völkerrechtswidrige Aggression zu verteidigen. Mit Verlaub, eine solche idiotische Logik kann man niemandem mehr erklären! Zudem ist dies eine Verhöhnung der rund acht Millionen ukrainischen Opfer des Zweiten Weltkrieges (gemessen an der Bevölkerungszahl hat die Ukraine übrigens weit mehr Menschen im Weltkrieg verloren als Russland).
Auch das – schon aus anderen Konflikten bekannte – deutsche Mantra „es gibt keine militärische Lösung“ verdeutlicht das Nichtwahrhabenwollen führender deutscher Akteurinnen. Schon Angela Merkel brachte diesen heiteren Sinnspruch immer wieder, und Annalena Baerbock tut es ihr nun gleich. Dabei gibt es selbstverständlich eine militärische Lösung in diesem Konflikt, nur halt nicht in unserem Sinne! Und die sieht so aus: Russland greift die Ukraine an, besetzt das Land, fertig. Der Konflikt ist dann „militärisch gelöst“, schlichtweg weil eine der Konfliktparteien nicht mehr existiert. So ähnlich lief es schon in Georgien und Syrien.

c) Nicht erst seit Beginn der aktuellen Zuspitzung, sondern schon seit Jahren beobachte ich ein ahistorisches, von geschichtlicher und außenpolitischer Unkenntnis zeugendes Appeasement gegenüber Putin seitens diverser Vertreter der deutscher Eliten. Der irrlichternde Admiral Kay-Achim Schönbach und seine verheerenden Aussagen bei seinem Indien-Trip sind da nur das jüngste Beispiel. Stefan Kornelius bezeichnete Schönbach dafür zu Recht als „das Gesicht der deutschen Ukraine-Verwirrung“ (SZ vom 24. Januar 2022, Seite 4). Älter, und schlimmer, ist die ambivalente Haltung vieler Vertreter aus allen Parteien.
So hat sich der neue CDU-Chef Friedrich Merz gegen einen wirksamen Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-System ausgesprochen. Der Ex-Aufsichtsratsvorsitzende von BlackRock Deutschland hat damit als einer von vielen deutschen Politikern Wirtschaftsinteressen öffentlich den Vorzug gegenüber der internationalen Solidarität mit der Ukraine gegeben. Auch der gewohnt wankelmütige CSU-Chef Markus Söder sprach sich gegen harte Sanktionen aus, will Nord Stream II öffnen und bezeichnete Russland allen Ernstes lediglich als „schwierigen Partner“ der EU. Mit AfD und Linkspartei sitzen ferner zwei Fraktionen im Bundestag, die außenpolitisch komplette Totalausfälle sind, wie nicht nur die russlandpolitischen Einlassungen von Leuten wie Klaus Ernst und Alexander Gauland zeigen. Ein besonderes Problem habe ich leider auch mit der Außen- und Russlandpolitik von Teilen meiner eigenen Partei, der SPD. Die Haltung (zu) vieler führender Sozialdemokraten kann ich nur als äußerst schwierig bezeichnen. Sie verdient aber ein eigenes Unterkapitel.

d) In der SPD gibt es seit Jahren eine zu beobachtende russlandfreundliche Tendenz. Dies wäre nicht weiter schlimm, wäre die russische Regierung unter Wladimir Putin nicht ständig dabei, weite Teile Osteuropas und anderer Weltgegenden (Georgien, Libyen, Syrien, Mali etc.) zu destabilisieren. Besonders auffällig geworden sind in dieser Sache etwa Kevin Kühnert, Ralf Stegner und Matthias Platzeck. Die Einstellung dieser und manch anderer SPD-Mitglieder fußt dabei meiner Einschätzung nach auf drei Fundamenten:

Erstens: SPD-Altkanzler Gerhard Schröder ist Aufsichtsratsvorsitzender der Nord Stream AG. Schröder ist damit, bei allen Verdiensten, die er als Kanzler hatte, leider längst Lobbyist in russischen Diensten. Seine jüngsten Äußerungen und Warnungen vor ukrainischem „Säbelrasseln“ verdeutlichen diese traurige Tatsache. Die nach wie vor vorhandene persönliche Bindung mancher führender SPD-Mitglieder an Schröder manifestiert sich offenbar auch in einer oft unkritischen Haltung gegenüber der russischen Regierung.

Gerhard Schröder mit seinem Brötchengeber Wladimir Putin (2005)
Quelle: Kreml / CC BY 3.0
  • Zweitens: In der SPD gibt es eine wichtige, wenn auch sich in der Minderheit befindende Traditionslinie des Pazifismus. Pazifismus als solcher ist ja auch zutiefst ehrenwert. Doch leider lehrt uns die Welt, dass Pazifismus Grenzen hat: Wenn Menschen oder Staaten Opfer unprovozierter Aggression werden, wenn Potentaten wie Putin tausende Menschen töten lassen, um Macht zu gewinnen, darf man nicht wegschauen. Notwehr – sei es ökonomisch, sei es militärisch – ist dann leider geboten. Das heißt keineswegs, dass man ständig überall intervenieren sollte. Bloß nicht! Doch sollten potenzielle Aggressoren zumindest mit Widerstand rechnen müssen. Noch besser ist es freilich, so stark zu sein, dass aggressive Mächte gar nicht erst in die Versuchung kommen, sich aufzuspielen. In der SPD ist diese Einsicht aber leider noch nicht bei jedem angekommen. Sozialdemokratische Außenpolitik geht daher oft leider auf Kosten der internationalen Solidarität mit unseren osteuropäischen Freunden – und damit auch auf Kosten eines anderen wichtigen Grundwertes der deutschen Sozialdemokratie (siehe SPD-Grundsatzprogramm, Seite 19).
  • Drittens: Immer wieder sprechen manche Sozialdemokraten öffentlich davon, die „Neue Ostpolitik“ Willy Brandts wiederzubeleben. Dies wäre tatsächlich keine schlechte Idee, nur leider vergessen diejenigen, die dies fordern, oft zentrale Aspekte dieser Ostpolitik. So war es eine unverzichtbare Grundlage der Ostpolitik der 1970er Jahre, dass Deutschland aus einer Position der Stärke heraus verhandelt hat. Konkret stieg unter Willy Brandt trotz erheblichen Wirtschaftswachstums der Anteil der Verteidigungsausgaben am BIP von 3,6 % auf 4,0 %. Der ehemalige verteidigungspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Fritz Felgentreu, hatte schon Ende 2019 darauf hingewiesen. Leider gehört er heute nicht mehr dem Bundestag an (weitere positive Ausnahmen unter den SPD-Außenpolitikern sind etwa die Abgeordneten Nils Schmid und Michael Roth. Ich hoffe sehr, dass ihre und meine Position sich durchsetzt). Diese Stärke war Grundvoraussetzung dafür, von der sowjetischen Führung ernstgenommen zu werden. Außerdem wird oft vergessen, dass die Sowjetunion sich ohnehin keinen Krieg mit der NATO hätte erlauben können – dieser hätte aus bekannten Gründen schließlich das Ende der Welt bedeutet. Doch Russlands Nachbarn (besser: Opfer) wie Georgien und die Ukraine gehören eben nicht der NATO an. Sie sind leichte Beute, und ein Krieg gegen diese Staaten bedeutet aus russischer Sicht eben keine Apokalypse, sondern ein lohnenswertes Unterfangen. Zumindest, solange der Westen nicht angemessen reagiert. Als Historiker bin ich immer dafür, aus der Geschichte zu lernen. Allerdings müssen historische Vergleiche schon ein vollständiges Bild zeichnen und nicht dazu dienen, die Realität zu verzerren oder platte Gleichsetzungen ohne Berücksichtigungen von Unterschieden und historischem Kontext vorzunehmen.
Willy Brandt (1980)
Quelle: Bundesarchiv / CC BY SA 3.0

2. Die Folgen unserer Politik

Damit wären wir bei den schwerwiegenden Folgen der unsäglichen deutschen Politik im Ukraine-Konflikt. Glücklicherweise, muss man sagen, wird Deutschlands Ausfall ein Stück weit kompensiert durch die aktive und entschlossenere Haltung, die etwa die polnische, die britische und die US-amerikanische Regierung einnehmen. Doch selbst diese einflussreichen Staaten können das deutsche Versagen nicht vollständig ausgleichen. Konkret hat die deutsche Außenpolitik, die in wesentlichen Elementen schon unter Angela Merkel so betrieben wurde, nämlich nur eine Folge: Ein Krieg Russlands gegen die Ukraine wird durch sie wahrscheinlicher. Bei SWIFT wird gezaudert. Bei Nord Stream II wird gezögert. Und der Ukraine werden deutsche Waffenlieferungen vorenthalten (selbst dann, wenn es nur um aus Deutschland stammende Waffen geht). Dadurch kann sich die Ukraine schlechter verteidigen und wird zu einem attraktiveren Ziel für Putin.

Einmal mehr zeigt sich, dass Kriege in der Regel nicht aus Rüstungswettläufen entstehen, sondern wenn eine militärisch starke expansive Macht wie Russland auf deutlich schwächere Opfer wie die Ukraine trifft. Und dass die russische Regierung die Ukraine bedroht, kann nicht ernsthaft bezweifelt werden. Sowohl Putins gruselig-geschichtsrevisionistisches Ukraine-Essay vom Sommer 2021 als auch die aggressiv-einseitige Berichterstattung des Kreml-Senders Russia Today machen klar, dass die Ukraine auf Putins Abschlussliste steht. An dieser Stelle muss daran erinnert werden: Putin ist zweisprachig. Er versteht die Sprache der Macht und die der Gewalt. Wer den Gebrauch der letzteren nicht provozieren will, muss daher die Sprache der Macht lernen, um sich Putin verständlich zu machen. Der russische Präsident sieht im Untergang der Sowjetunion „die größte geopolitische Katstrophe des 20. Jahrhunderts“ und positioniert Russland als revisionistische Macht, die nach eigenem Ermessen die Grenzen verschiebt und schwächere Staaten zerstört oder in ihre Abhängigkeit treibt.

Neben den unmittelbaren Folgen drohen aber auch langfristige Nachteile für Deutschland: Nicht nur die russische, sondern auch die chinesische Regierung werden sich das deutsche Verhalten merken. Sie wissen nun: Mit Deutschland müssen sie nicht rechnen, egal ob Russland die Ukraine attackiert oder China eines Tages Taiwan angreift. Zudem schwächt und spaltet Deutschland die EU sowie die NATO und macht sich so bei seinen osteuropäischen Verbündeten, aber auch bei Briten und US-Amerikanern unmöglich. Wie Wolfgang Ischinger völlig richtig analysiert, gibt unsere Außenpolitik den baltischen Staaten, Polen, Rumänien und anderen null Anlass, an eine gemeinsame europäische Armee und Außenpolitik zu glauben. Die Regierungen Russlands und Chinas, des Iran und Nordkoreas lachen sich angesichts dieser deutschen und europäischen Tollpatschigkeit völlig zu Recht ins Fäustchen.

3. Fazit: Was zu tun ist

Es ist deutlich geworden, dass die deutsche Ukraine-Politik in eine Sackgasse führt. Unsere handelnden Politikerinnen und Politiker müssen dringend umschwenken. Die Ukraine braucht keine fruchtlosen Appelle, sondern konkreten Beistand in Form von Waffen, Ausrüstung, Geld und einem realistischen Pfad zur Mitgliedschaft in EU und NATO. Sollte Russland die Ukraine tatsächlich angreifen, muss Russland aus dem SWIFT-System fliegen, auch wenn es deutsche Handelsinteressen tangiert. Nord Stream II muss ein Ende finden, und zwar auch dann, wenn die maximale Eskalation diesmal ausbleibt. Schließlich gilt es, den russischen Staat nicht unnötig mit Euros zu mästen, die er dann wieder in die Rüstung stecken kann. Die Energiewende hat eben nicht nur klimapolitische, sondern auch strategische Implikationen.

Glücklicherweise bin ich mit meiner Haltung nicht alleine. Dies gilt auch für die SPD. Sowohl bei persönlichen Treffen mit anderen SPD-Mitgliedern als auch in sozialen Medien sehe ich, dass insbesondere jüngere Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten die Politik der Parteispitze kritisch sehen und sich mehr Unterstützung für die Ukraine wünschen. Auch ist eine realistische Haltung zur Europa-, Außen- und Sicherheitspolitik anders als früher vor allem unter jungen SPD‑Mitgliedern weit verbreitet. Das gibt mir Hoffnung. In diesem Sinne wünsche ich mir, dass sich die SPD-Spitze besinnt, sich an Willy Brandts erfolgreicher Außenpolitik orientiert, eine realistische Sicherheitspolitik betreibt und der Ukraine in ihrem Konflikt mit Russland entschlossen beisteht.

So können wir gemeinsam arbeiten für den Frieden. Denn in einem sind wir uns in der SPD einig:

„Der Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne den Frieden nichts.“

Willy Brandt