Der Ukraine-Krieg und seine Folgen

Es ist Krieg in Europa. Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 beginnt eine neue Phase der europäischen Geschichte. Mit meiner Prognose vom Januar 2022, ein Krieg in der Ukraine sei sehr wahrscheinlich, habe ich leider Recht behalten. Das Wort von der „Zeitenwende“, welches Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bemüht, trifft diese Situation sehr gut. Denn mit dem Ukraine-Krieg gibt es zum ersten Mal seit 1939/45 einen klassischen zwischenstaatlichen Angriffskrieg in Europa. Ein solcher hat nicht nur theoretisch-völkerrechtlich, sondern auch praktisch-politisch eine andere Dimension als etwa die Bürgerkriegsinterventionen der 1990er Jahre auf dem Balkan. Aus diesem und vielen weiteren Gründen (siehe nächster Abschnitt) ist es auch legitim, dem Krieg in der Ukraine aus europäischer Sicht deutlich mehr Aufmerksamkeit zu schenken als den fürchterlichen Ereignissen in anderen Weltregionen.

Ein zerstörtes Haus bei Chernihiv, Nordukraine
Quelle: Staatlicher Dienst für Notfallsituationen der Ukraine / CC BY 4.0

Ukraine-Krieg: Der Stand der Dinge

Aktuell kann noch niemand mit Gewissheit sagen, wie der Ukraine-Krieg ausgehen wird. Verlässliche Infos über den Frontverlauf, militärische und zivile Verluste sowie den Zustand der Kriegsparteien sind schwer zu bekommen. Die meiner Einschätzung nach verlässlichsten Informationen teilen derzeit der britische Militärgeheimdienst sowie eine Reihe meist US-amerikanischer Militärjournalisten (etwa 1, 2, 3), die sich auf Open Source Intelligence (OSINT) spezialisiert haben. Die hier verlinkten Akteure sind allesamt auf Twitter aktiv. Da sich die Lage in der Ukraine häufig ändert, möchte ich hier indes nicht weiter darauf eingehen, sondern mich mit grundsätzlicheren Fragen befassen.

Unabhängig vom Verlauf des Krieges ist das derzeitige Ausmaß der internationalen Solidarität mit der Ukraine bemerkenswert. Aus aller Welt erreichen Waffen und Hilfslieferungen das Land. Polen und Ungarn, eben noch die Staaten mit einer eher ablehnenden Haltung zu Migration, nehmen Millionen ukrainischer Flüchtlinge auf (auch wenn ein rassistischer Aspekt bei der Unterscheidung zwischen „guten“ ukrainischen und „schlechten“ syrischen Flüchtlingen keineswegs zu leugnen ist). Auch in anderen europäischen Staaten wie Rumänien, der Slowakei und auch Deutschland werden viele hilfsbedürftige Menschen aufgenommen. Deutschland legt eine 180°-Wende in der Sicherheitspolitik hin. In vielen Städten weltweit gibt es Massendemonstrationen gegen Wladimir Putin und seinen verbrecherischen Angriffskrieg. All dies ist gut und zeigt, dass internationale Solidarität kein leeres Schlagwort ist. Doch dürften die langfristigen Folgen des Krieges noch deutlich mehr Aufmerksamkeit von uns erfordern.

Im Folgenden erläutere ich daher zunächst, warum der Ukraine-Krieg unsere besondere Aufmerksamkeit verlangt, gerade auch im Vergleich zu anderen Konflikten der jüngeren Zeit. Anschließend möchte ich wahrscheinliche Folgen des Krieges für die internationale Politik darlegen. Zum Abschluss und als Teil des Fazits werde ich dann einige Handlungsoptionen aus deutscher bzw. europäischer Sicht skizzieren.

Warum der Krieg in der Ukraine für uns so wichtig ist

Auch abseits der Flüchtlingsfrage (wo der Vorwurf, siehe oben, berechtigt ist) wird öffentlich von einigen Menschen argumentiert, die große Anteilnahme am Ukraine-Krieg im Vergleich zur geringeren Anteilnahme an anderen Konflikten zeige rassistische Einstellungen. Ich halte dieses Argument für falsch. Dass die Ukraine international und besonders in Europa und im „Westen“ generell mehr Aufmerksamkeit erhält als etwa die Bürgerkriege in Syrien, im Jemen und in Libyen, hat handfeste Gründe:

  1. Die Ukraine ist uns in Europa deutlich näher, die Auswirkungen der Kämpfe erreichen uns also früher und in stärkerer Form. Diese Nähe ist dabei nicht nur physisch, sondern auch psychologisch ein wichtiger Faktor.
  2. Es gibt mehr persönliche Verbindungen zwischen Ukrainern und Westeuropäern, daher ist die persönliche Anteilnahme logischerweise höher, insbesondere wenn es um eigene Familienmitglieder geht.
  3. Geostrategisch ist die Ukraine aus Sicht der EU- und NATO-Mitglieder ungleich bedeutsamer als etwa Syrien oder Jemen.
  4. Anders als in den meisten Bürgerkriegen gibt es im Ukraine-Krieg eine glasklare Aufteilung in Täter (Russland) und Opfer (Ukraine). Der Kampf „Gut gegen Böse“ wird noch verstärkt durch den Eindruck einer Auseinandersetzung „David gegen Goliath“. In Syrien beispielsweise wüsste man doch gar nicht, welche Konfliktpartei man als am verachtenswertesten einstufen sollte: Das Assad-Regime? Den IS? Die anderen islamistischen Rebellen? Die Zeiten, als die „Freie Syrische Armee“ westliche Sympathien genoss, sind längst vorbei. Denn diese einst halbwegs demokratisch gesinnte Rebellengruppe ist teils zerstört, teils zu den Islamisten übergelaufen. Ähnliche Schlussfolgerungen lassen sich auch in Mali, Libyen und Jemen ziehen.
  5. Vor allem aber handelt es sich beim Ukraine-Krieg um den ersten vollumfänglichen Angriffskrieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Und auch außerhalb Europas muss man für den jüngsten offenen zwischenstaatlichen Angriffskrieg fast 20 Jahre zurückgehen, nämlich bis zum Irak-Krieg des Jahres 2003. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist eindeutig völkerrechtswidrig und verstößt eklatant gegen Artikel 2 der UN-Charta. Dieser Artikel verbietet es den Mitgliedstaaten, Kriege gegen ihre Nachbarn zu führen.

All dies ändert nichts daran, dass die Menschen in Syrien oder Jemen genauso stark leiden wie die in der Ukraine. Zugleich ist klar, dass die russische Invasion der Ukraine eine neue Dimension internationaler Aggression, insbesondere auf europäischem Boden, darstellt. Doch welche Folgen hat der Konflikt schon jetzt und in Zukunft?

Die Folgen von Putins Angriffskrieg

Die Gute Nachricht zuerst: Wladimir Putin erreicht mit seinem Vernichtungsfeldzug gegen die Ukraine in allen Punkten das exakte Gegenteil dessen, was er sich vorher ausgerechnet hat:

Die Ukraine

Putin wollte die Ukraine mit einem Blitzkrieg-Feldzug „heim ins Reich“ holen. Doch dieser Versuch ist krachend gescheitert am Widerstand der ukrainischen Armee und des ukrainischen Volkes. Putin hat sich offenbar in seine eigene verlogene und historisch leicht widerlegbare Propaganda verrannt, die die Ukraine als „Nicht-Staat“ und ihre Bewohnerinnen und Bewohner als „Nicht-Volk“ verhöhnt. Doch die ukrainischen Streitkräfte leisten seit dem ersten Tag der Invasion den russischen Angreifern erbitterten Widerstand. Der Ukraine-Krieg dürfte lang und leider sehr blutig werden – für alle Beteiligten.

Auch wenn konkrete Zahlen dazu schwer zu bekommen und die Angaben der Konfliktparteien mit größter Vorsicht zu genießen sind, schält sich ungefähr folgendes Verhältnis heraus: Für jeden getöteten ukrainischen Soldaten sterben 1,5 bis 2 russische. Bei den Panzern, Fahrzeugen, Geschützen, Hubschraubern und Flugzeugen liegt die Verlustquote derzeit bei 1:3 bis 1:4. Und das sind nur die sicher dokumentierten Verluste. Fakt ist: Selbst wenn Russlands Armee diesen Krieg doch noch gewinnen sollte, wäre es ein klassischer Pyrrhussieg. Und dieser wird die Einsatzbereitschaft der russischen Armee auf Jahre hinaus deutlich reduzieren. Ganz zu schweigen von dem, was Russlands Armee blüht, wenn sie eine Besatzung der Ukraine organisieren müsste. Denn eines steht fest: Der Angriff auf das ukrainische „Brudervolk“ hat selbiges zu Putins und Russlands entschlossenstem Feind gemacht.

Bei der nachvollziehbaren Freude über das partielle russische Scheitern sollte man jedoch nicht denselben Fehler begehen wie die deutsche Regierung im Zweiten Weltkrieg. Nach dem Desaster, das die sowjetische Armee in Finnland 1939/40 erlebt hatte, wurde die Kampfkraft der Roten Armee chronisch unterschätzt. Dies war einer der Gründe für den verheerenden Entschluss Hitlers, 1941 die Sowjetunion anzugreifen. Nun plant im Westen zum Glück niemand einen NATO-Feldzug gegen Russland. Doch sollten wir uns nicht in falscher Sicherheit wiegen, nur weil die Russen in der Ukraine bisher so schwach auftreten. Die Ertüchtigung der europäischen Verteidigung bleibt richtig und wichtig, denn auch die Russen werden aus ihrem Ukraine-Desaster ihre Lehren ziehen.

Einer von zahlreichen zerstörten russischen Militärkonvois in der Ukraine
Quelle: Ukrainisches Innenministerium / CC BY 4.0

Der Westen

Auch hier hat Putin sich verkalkuliert. Er rechnete offenbar mit einigen symbolischen Sanktionen, die nach seinem erwarteten schnellen Sieg rasch aufgehoben würden. Eine krasse Fehleinschätzung. Die Wirtschaftssanktionen, die die EU, die USA, Großbritannien und weitere Staaten gegen Russland verhängt haben, sprengen alles bisher Dagewesene. Noch nie in der Geschichte wurde eine Atom- und Großmacht mit derartigen Sanktionen belegt: Weitgehender Ausschluss aus dem Swift-System, Ende von Nord Stream 2, Exportverbote für Hightech-Güter, Rückzüge von Unternehmen, Kontosperrungen, eingefrorene Oligarchen-Vermögen, geschlossene Lufträume und, und, und.

Schon jetzt ist die russische Wirtschaft angeschlagen, der Rubel und die Exporte sind eingebrochen, das BIP könnte im zweiten Quartal um mehr als 35 % einbrechen. Die USA haben darüber hinaus bereits ein Ölembargo verhängt. Bei weiteren russischen Kriegsgräueln, etwa in Mariupol oder Charkiw, ist denkbar, dass sich die Europäer dem anschließen. Dies wäre der Todesstoß für die russische Ökonomie und den russischen Staat, der sich zu rund 43 % aus den Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft finanziert.

Quicklebendig dank Putin: Die NATO
Quelle: gemeinfreies Logo

Zudem agiert der Westen geschlossen und koordiniert. Transatlantische Spaltung, Brexit, NATO-„Hirntod“, EU-Fehden: alles vergessen. Dies ist eines der wenigen erfreulichen Resultate dieses furchtbaren Krieges, der so viel menschliches Leid verursacht. Auch rüsten westliche Staaten, insbesondere europäische wie Deutschland, nun massiv auf: zwei Prozent jährlich für Verteidigung, 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr. Vor Kurzem hätte dies noch einen Aufschrei ausgelöst. Doch nun ist der Widerstand dagegen sehr begrenzt, weil die Menschen wissen, dass mit dem Ukraine-Krieg eine neue Zeit angebrochen ist. Und diese neue Zeit erfordert nun einmal neue Antworten, auch wenn diese nicht schön sind. Wichtig ist dabei, dass die NATO einerseits nicht überreagiert, andererseits sich aber auch aus der „Berechenbarkeitsfalle“ heraus bewegt, die ihr der britische Diplomat John Raine attestiert hat.

China

Der russische Präsident war sich auch hier sicher: China würde ihm nicht nur nicht in den Arm fallen, sondern seinen Feldzug gegen die Ukraine in der einen oder anderen Form unterstützen. Auch dies dürfte sich als Fehlschluss Putins herausstellen. Zwar gibt es zu Recht größeres Rätselraten im Westen über die teils widersprüchlichen Reaktionen (etwa die Enthaltung im UN-Sicherheitsrat) der chinesischen Regierung. Doch kann sich die chinesische Regierung, trotz aller öffentlichen Ambivalenz in ihren Äußerungen, kaum über die russische Invasion freuen. Und dies hat mehrere Gründe:

  1. Die Argumente Wladimir Putins vor und während des Einmarsches sind aus chinesischer Sicht verheerend. Putin sprach oft davon, in der Ostukraine finde ein „Völkermord“ an Russen statt. Dies rechtfertige ein Eingreifen in der Ukraine. Für Präsident Xi Jinping, der seit Jahren schon einen zumindest kulturellen Genozid an den Uiguren in Westchina durchführen lässt, ist dies eine fatale Argumentation. Denn setzt sich diese Rechtsauffassung völkerrechtlich und moralisch international durch, muss er selbst mit mehr Kritik und Sanktionen für seinen Umgang mit den Uiguren rechnen.
  2. Auch dass Putin die beiden Separatistengebiete Donezk und Luhansk als unabhängige Staaten anerkannt hat, ist für China ein Graus. Schließlich verurteilt die chinesische Regierung bei jeder Gelegenheit „separatistische Aktivitäten“. Dies ist meist auf Taiwan, aber auch auf Hongkong gemünzt. Dort will China durchgreifen, und insbesondere im Konflikt um Taiwan argumentiert Xi Jinping auch mit der territorialen Unverletzlichkeit der Grenzen. Tatsächlich wird Taiwan nur von wenigen Staaten anerkannt. Doch wenn China Putin seine proseparatistische Nummer durchgehen lässt, wird es argumentativ künftig eng für Peking.
  3. Die neue westliche Geschlossenheit und das Wiederaufblühen von EU und NATO ist auch für China schlecht. Denn es muss nun mit größerer westlicher Skepsis gegenüber Autokratien ebenso rechnen wie mit verstärkter Gegenwehr, sollte China sich expansiv und völkerrechtswidrig verhalten. Dies gilt etwa für chinesische Ambitionen in Taiwan, Hongkong und im Südchinesischen Meer.
  4. Schließlich ist Russland aufgrund der hohen militärischen Verluste und der wirtschaftlichen Sanktionen auf Jahre bis Jahrzehnte massiv geschwächt. Als Anfang 2022 China und Russland einen „Freundschaftsvertrag“ abschlossen, war die chinesische Regierung davon ausgegangen, einen mächtigen Verbündeten zu gewinnen. Doch unabhängig davon, ob die Chinesen über den Angriff auf die Ukraine informiert waren oder nicht: Der Ukraine-Krieg wird Russland schwächen. Und an schwachen Alliierten hat niemand ein Interesse. Wenn man es zuspitzen wollte, könnte man sogar einen interessanten historischen Vergleich ziehen: Wladimir Putin könnte machtpolitisch für Xi Jinping zunehmend das werden, was Benito Mussolini in den 1940er Jahren für Adolf Hitler wurde: Der dusselige Verbündete, der ständig neue Konfliktherde aufmacht, dort scheitert und dann den „großen Bruder“ (damals Deutschland, heute China) mit reinzieht. Und wie die „Männerfreundschaft“ zwischen Hitler und Mussolini ausgegangen ist, wissen wir ja…

Fazit

Putin hat seinen verbrecherischen Feldzug lange vorbereitet: Er hat seit Jahren giftige antiukrainische Propaganda verbreitet. Er hat seine Armee aufgerüstet. Er hat den Westen und insbesondere Deutschland mit dem Versprechen auf goldene Wirtschaftsbeziehungen eingelullt. Er hat, auch dies eine Parallele zu Hitler und Mussolini, wie einst die beiden faschistischen Diktatoren im Spanischen Bürgerkrieg in Syrien seine Waffensysteme getestet und dabei Tausende Unschuldige umgebracht. Und er hat die Krim annektiert und den Donbass destabilisiert. Und nie hat der Westen entschlossen eingegriffen. Dass Appeasement aus einer Position der Schwäche nicht wirkt, hätte eigentlich eine weitere Lehre der Geschichte sein können. Aber zu viele wollten nicht wahrhaben, was ist.

Nun ist schnelles, entschlossenes Handeln angesagt. Der Ukraine-Krieg wird langfristige Folgen weit über Osteuropa hinaus haben. Die Weltordnung wird instabiler, Gewalt hoffähiger. Doch wir können reagieren. Eine größere Unabhängigkeit von russischem Gas, Öl und Kohle sind bereits in Planung. Der dazu nötige schnellere Ausbau der erneuerbaren Energien muss notfalls gegen Widerstände durchgezogen, Planungsverfahren beschleunigt werden. Jede und jeder von uns kann seine Heizung ein paar Grad kühler einstellen. Wer kann, sollte sein Auto öfters stehen lassen, sein Haus dämmen und allgemein sparsamer mit fossilen Energien umgehen.

Das Europäische Parlament in Straßburg
Quelle: Ralf Roletschek / CC-BY 3.0)

Vor allem aber müssen wir unsere Außen-, Sicherheits- und nicht zuletzt Europapolitik fundamental umstellen. Die angekündigten Mehrausgaben für Verteidigung sind da nur ein erster, wenn auch wichtiger Schritt. Die Idee einer Europäischen Armee muss nun in die konkrete Umsetzung gehen. Dazu werde ich später und an anderer Stelle noch etwas schreiben. Dabei gibt es keine Zeit zu verlieren, denn die europäische Sicherheit hat womöglich ein Verfallsdatum: den 20. Januar 2025. Sollte an diesem Tag Donald Trump oder ein anderer US-Republikaner ins Weiße Haus einziehen, könnte es für unseren Kontinent schwierig werden. Schließlich sind weite Teile von Trumps Partei der NATO und Europa gegenüber offen feindselig eingestellt. Und auf dieses mögliche Szenario, nämlich dass die Europäer praktisch von heute auf morgen auf eine eigene unabhängige Verteidigung angewiesen sind, müssen wir vorbereitet sein.

Bis dahin muss also der vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron in die Welt gesetzte Begriff der „europäischen Souveränität“ mit Leben gefüllt werden. Denn eines ist klar: Putin mag den Krieg in der Ukraine gewinnen oder verlieren. Doch auch unabhängig von ihm gibt es genügend Bedrohungen in der Welt, die wir als Europäerinnen und Europäer nur gemeinsam werden bewältigen können.

Was der Sieg von Biden und Harris bedeuten kann

Eine überzeugende Wahl

Nun steht es also fest: Vier lange Tage hatte es gedauert, genug Stimmen auszuzählen, um herauszufinden, wer die US-Präsidentschaftswahlen von 2020 gewonnen hat. Die Sieger, Joe Biden und Kamala Harris, haben sich am Ende deutlich durchgesetzt. Der Sieg fiel dabei alles andere als knapp aus, was zunächst durch die lange Auszählung und die vorübergehende Führung Donald Trumps in wichtigen Bundesstaaten verdeckt wurde. Bereits jetzt haben Biden und Harris rund 5,5 Millionen Stimmen mehr als Trump und sein Vize Mike Pence erhalten. Dieser Vorsprung dürfte sich noch weiter vergrößern; eine Zielmarke von sechs bis sieben Millionen Stimmen Abstand dürfte dabei realistisch sein. Auch konnten die Demokraten gleich fünf Staaten (Arizona, Georgia, Michigan, Pennsylvania, Wisconsin) und einen Kongressbezirk in Nebraska erobern. Dass der Herausforderer einen zur Wiederwahl stehenden Amtsinhaber besiegte, ist zudem eine besondere und seltene Leistung, schließlich geschah dies im letzten Jahrhundert überhaupt nur fünf Mal: 1912, 1932, 1976, 1980 und 1992. Historisch ist die Wahl dabei gleich aus zwei Gründen: Zum einen bedeutet der Sieg von Kamala Harris, dass zum ersten Mal eine Frau und zudem zum ersten Mal eine nichtweiße Amerikanerin das Amt der Vizepräsidentin ausfüllt. Zum anderen haben Biden und Harris so viele Stimmen geholt wie kein Kandidatenteam zuvor in der US-Geschichte, nämlich mehr als 80 Millionen. Wobei man hier hinzufügen sollte, dass auch Trump mehr Stimmen geholt hat als 2016 und sogar mehr als Barack Obama im Jahr 2008. Seine mehr als 75 Millionen Stimmen sprechen daher eine deutliche Sprache: Der Trumpismus ist nicht nicht tot und wird die republikanische Partei noch lange beschäftigen.

Wahlanalyse – Und was sich aus 2020 für die Zukunft ableiten lässt

Mit 306 zu 232 Stimmen im Electoral College haben Biden und Harris kurioserweise mit genau demselben Abstand gewonnen, mit dem Trump 2016 Hillary Clinton schlug. Für die Demokraten dabei besonders wichtig: Sie haben ihre blaue Mauer, den mittlerweile berühmten „Blue Wall“, wiedererrichtet: Wisconsin, Michigan und Pennsylvania und dazu die (für die Demokraten eher sicheren) Staaten Virginia, Minnesota und New Hampshire bilden einen Block, gegen den man in den USA nur schwerlich Präsident werden kann. Die Siege in den drei erstgenannten Staaten – insbesondere der deutliche Sieg in Michigan – können dabei aber nicht überdecken, dass die Demokraten auch künftig vermehrt um diese Staaten werden kämpfen müssen. Die überwiegend weißen Arbeiter und Arbeiterinnen im „Rust Belt“ wählen schon länger nicht mehr automatisch demokratisch und sind überdies für identitätspolitische und kulturelle Angebote von rechts offen. Das hat Trumps Erfolg dort im Jahr 2016 eindrucksvoll belegt. Zudem zeigt sich erneut, dass die Verschiebungen in den Swing States – und vor allem: welche Staaten überhaupt als solche gelten dürfen – nicht nur den Demokraten nützen.

Licht und Schatten für beide Parteien

So haben sich zwar Colorado, Virginia, New Mexiko, New Hampshire und Nevada zunehmend zu Hochburgen der Demokraten entwickelt. Gleichzeitig wird es für sie jedoch immer schwerer, Ohio, Iowa oder Florida zu erobern. Die dortigen demographischen, kulturellen und politischen Veränderungen lassen diese drei Staaten zunehmend ins Lager der Republikaner überlaufen. Im ländlichen Iowa und in der Industriebrache Ohio ist es der Verdruss über die kosmopolitische, sich vermeintlich oder tatsächlich vor allem um Minderheitenrechte scherende Demokraten-Elite an den Küsten, der den Republikanern hilft. In Florida wiederum siedeln sich bevorzugt (weiße) Ruheständler an, um dort in der Sonne ihren Lebensabend zu verbringen. Ältere Weiße sind aber eine der Kernwählergruppen der Republikaner. Auch wählen die dortigen Latinos aufgrund ihrer überwiegend kubanischen Herkunft, die sie geradezu allergisch für jedwede Form von „Sozialismus“ werden lässt, meist konservativ (dies gilt selbst dann, wenn dieser „Sozialismus“ nur darin besteht, erkrankte Menschen nicht einfach sterben zu lassen, sondern ihnen eine günstige staatliche Krankenversicherung anzubieten).

Hoffnung kann den Demokraten aber machen, dass Sie Arizona und Georgia erobern konnten und spätestens 2024 oder 2028 realistische Chancen haben werden, sogar Texas blau zu färben. In Georgia war diesmal, nach allem was bisher bekannt ist, vor allem die große Mobilisierung unter der schwarzen Einwohnerschaft bedeutsam. In Arizona und Texas sind es hingegen die massiven demografischen Veränderungen, sprich: Der Zuzug von sozialpolitisch eher links orientierten Latinos aus Südamerika und deren höhere Geburtenrate, die beide Staaten immer weiter zu den Demokraten treiben. Die hier skizzierten Veränderungen bedeuten also für beide Parteien Licht und Schatten und werden dafür sorgen, dass auch künftig beide Parteien Chancen auf US-weite Wahlsiege haben. Der Traum der Demokraten von „demographic eternity“, also einer schleichenden Monopolisierung der politischen Macht in den USA als Folge wachsender Bevölkerungsanteile von Latinos, Asiaten und Schwarzen, dürfte sich hingegen bis auf Weiteres als Luftnummer erweisen.

Gerade deshalb wird es für die Demokraten auch in Zukunft darauf ankommen – und Joe Biden hat dies vorgemacht –, sich nicht nur auf Schwarze, Latinos und andere Minderheiten zu verlassen. Denn, so hart dies auch sein kann: In einer Demokratie entscheidet nun einmal die Mehrheit. Und die ist in den USA immer noch weiß. Und ja, der Bevölkerungsanteil der Weißen nimmt in den USA ab. Aber eben nur langsam, und selbst wenn irgendwann die Weißen nicht mehr als 50 % der Wählenden stellen sollten, werden sie bis auf absehbare Zeit zumindest die relativ größte Gruppe stellen. Für die Demokraten ist es also entscheidend, neben rund 90 % der Schwarzen und rund 66 % der Asiaten und Latinos auch künftig mindestens rund 40 % der Weißen für sich zu gewinnen. Joe Biden ist dies offenbar gelungen, Hillary Clinton scheiterte daran.

Was der Sieg von Biden und Harris für die US-Außenpolitik bedeutet

US-amerikanische Innenpolitik ist eine interessante Angelegenheit, für uns in Europa ist aber wichtiger, wie sich die US-Außenpolitik künftig entwickeln wird. Zugegeben, beides ist eng miteinander verknüpft. Trotzdem ist es legitim, in einem kurzen Blogbeitrag sich einmal nur auf die Außenpolitik zu konzentrieren. Dabei sei zunächst angemerkt, dass die Frage nach der künftigen Mehrheit im US-Senat bedeutsam ist. Anders als das mehrheitlich demokratische Repräsentantenhaus hat der Senat nämlich erheblichen Einfluss auf die Außenpolitik und muss etwa völkerrechtliche Verträge ratifizieren. Die Demokraten haben hier nicht so viele Sitze hinzugewonnen wie erhofft, haben aber die Chance, im Januar in Georgia noch zwei Sitze in Stichwahlen hinzuzugewinnen. Dann stünde es im Senat 50:50 und bei einem Patt wäre die Stimme der neuen Vizepräsidentin Kamala Harris entscheidend.

            1. Klimapolitik

Joe Biden hat versprochen, am ersten Tag seiner Amtszeit die USA in das Pariser Klimaabkommen zurückzubringen. Dies ist jedoch nur der erste Schritt hin zu einer echten US-amerikanischen Klimapolitik, die diesen Namen auch verdient. Biden weiß das, weswegen er unter anderem die CO2-Neutralität der US-Stromproduktion bis 2035 anpeilt, ebenso wie die Förderung von emissionsarmen Formen des ÖPNV.

            2. NATO und Sicherheitspolitik

Donald Trump war die größte Gefahr für den Bestand der NATO seit dem Zerfall der Sowjetunion. Er drohte unverhohlen mit einem Austritt der USA und bezichtigte die Verbündeten, zu wenig Geld ins Militär zu stecken. Mit Joe Biden sind alle US-Ausstiegsdrohungen hinfällig geworden. Was aber bleiben wird, ist die alte US-amerikanische Forderung nach höheren europäischen Verteidigungsausgaben. Diese Forderung ist dabei nicht neu, wie diese Rede der damaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher vor dem US-Kongress aus dem Jahr 1985 eindrucksvoll zeigt (im Video ab Minute 23:00). Zudem teilen andere NATO-Staaten wie Großbritannien, Polen und die baltischen Länder diese Kritik. Und tatsächlich haben Deutschland und andere Staaten ihr Militärbudget bereits kräftig erhöht, um diversen Sicherheitsgefahren besser begegnen zu können. Langfristig stellen sich aber vor allem zwei Fragen an die NATO: Erstens, wie verhält sich die Allianz gegenüber China und soll sie, anders als ihr Name impliziert, auch im Pazifik eine Rolle spielen? Und zweitens, wie wird sich die wachsende Forderung nach einer europäischen Armee mit der NATO vertragen? Angela Merkel und andere fordern, eine EU-Armee solle innerhalb der NATO „gemeinsam auftreten“ (im Video ab Minute 17:40). Wie genau dies gestaltet werden könnte, wird aber noch eine große Denksportaufgabe.

            3. Außenhandel

Hier sollte man sich nicht täuschen: Die Wahrnehmung, Amerikas Industrie müsse gegen ausländische Importe abgeschottet werden, ist aufseiten der Demokraten schon lange genauso verbreitet wie bei den Republikanern. Auch Biden nutzt Schlagworte wie „Buy American“ oder „Make it in America“. Er wird insbesondere den von Trump verschärften Kurs gegenüber China fortsetzen. Für die US-EU-Beziehungen im Handel dürfte indes eine leichtere Zeit anbrechen, und sei es nur aufgrund des neuen Tonfalls. Schon unter Trump war der Handelsstreit der USA mit der EU nicht so heftig wie der mit China. Biden dürfte einen Teil der von Trump verhängten  US-Zölle auf EU-Güter bald abräumen, insofern die EU nachzieht und ihre Strafzölle auf US-Produkte einstellt. Trotzdem dürften die Zeiten des deutschen Exportbooms in die USA nicht nur wegen Corona vorbei sein. Ob sich die USA mit ihrer neuen Abschottungspolitik allerdings einen Gefallen tun oder sich in erster Linie die Konsumentenpreise erhöhen werden, steht in den Sternen.

Fazit

Man kann den USA zu ihrem neuen Präsidenten nur gratulieren. Joe Biden gilt als emphatisch, rücksichtsvoll und kompromissbereit. Er hat in seinem Leben wahrlich schwere Schicksalsschläge zu verkraften gehabt, was ihn sensibilisiert hat für die Sorgen und Nöte all derjenigen, die nicht mit dem sprichwörtlichen „Silbernen Löffel“ im Mund aufgewachsen sind oder aus anderen Gründen finanzielle, gesundheitliche oder soziale Probleme haben. Zugleich bleibt die teilweise scharfe Polarisierung des Landes bestehen und die Republikaner bleiben klar auf Rechtspopulismus-Kurs. Für die neue US-Regierung wird es daher schwer, ihr Volk wieder zusammenzuführen. Der Kampf gegen das grassierende Coronavirus, das aufstrebende China und die lahmende Wirtschaft werden von Anfang an alle Kräfte binden – der Erfolg ist dabei nicht garantiert. Für Deutschland und die EU bedeutet dies, trotz der berechtigten Erwartungen an eine Wiederannäherung an die USA und nicht zuletzt auch aufgrund unserer eigenen zahlreichen Probleme den eingeschlagenen Weg zu größerer außenpolitischer Souveränität weiterzugehen. Eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die Vollendung des Binnenmarktes und die Schaffung einer gemeinsamen Europäischen Armee müssen daher ganz oben auf der Tagesordnung stehen, unabhängig davon, wer im Weißen Haus regiert.