Zeitenwende: Russland, China und die Achse des 21. Jahrhunderts

Ende Dezember 1936. Robert Vansittart, Permanenter Unterstaatssekretär im britischen Foreign Office, schreibt an einem langen Memorandum zur Weltlage. Großbritannien, so Vansittart, befinde sich in einer prekären Situation. An allen Ecken der Welt drohe Unheil. Die Bedrohung gehe besonders von drei Männern aus, die er als „dictators major, minor and minimus“ bezeichnet: Adolf Hitler, Benito Mussolini und Francisco Franco. Die drei faschistischen Diktatoren von Nazi-Deutschland, Italien und Spanien (dessen republikanische Regierung bis April 1939 von Franco vertrieben wurde) stünden für „revisionistische Kräfte“, die mit dem aktuellen Status quo der Machtverteilung fundamental unzufrieden seien. Um die von ihnen ausgehende Bedrohung britischer Interessen abzuwenden, müsse man versuchen, die Dreierkombination aufzubrechen.

Zumindest mit einem von ihnen, Mussolini, könne man trotz allem reden. Er sei ein potenzieller Bündnispartner gegen Hitlerdeutschland; Italien zudem seit Langem ein traditioneller Alliierter Großbritanniens. Könne man mit Mussolini ein „Gentleman’s Agreement“ eingehen, würde sich die Lage schlagartig bessern. Ein Konflikt mit dem mächtigen Deutschland würde unwahrscheinlicher, und im Falle eines Falles bliebe das Faschistische Italien mindestens neutral. Vansittart brachte damit eine Überzeugung zu Papier, die in der britischen Elite schon länger vorherrschte: Obwohl durch ihren Revisionismus, Faschismus und Imperialismus sowie ihre Demokratieverachtung geeint, seien Deutschland und Italien keine natürlichen Verbündeten. Es gebe eine Chance, die „Achsenmächte“ voneinander zu trennen, wenn man nur dem Schwächeren der beiden – Mussolini – ein lukratives Angebot mache.

Der britische Diplomat Robert Vansittart (1929)
Quelle: Library of Congress / gemeinfrei

Gestern und Heute

Warum dieser Ausflug in die Geschichte der 1930er Jahre? Weil es, bei allen Unterschieden in historischem Kontext, handelnden Personen und anderen Details ein paar wichtige strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen der damaligen und der heutigen Lage gibt. Damals wie heute haben es die demokratischen Staaten der Welt mit einer Mehrfachbedrohung durch aggressive Mächte zu tun, die nicht nur demokratisch-liberale Werte ablehnen, sondern auch imperialistische Tendenzen zeigen. Damals wie heute sind verschiedene Weltregionen Teil der Auseinandersetzung: In den 1930er Jahren expandierte Deutschland in Ostmitteleuropa, Italien im Mittelmeerraum sowie in Ostafrika und Japan im pazifisch-ostasiatischen Raum. Heute bedroht Russland die Staaten in Osteuropa und im Kaukasus, China seine Nachbarn in Ost- und Südostasien.

Zu schlechter Letzt haben sich damals wie heute die imperialistischen Mächte nicht auf die Aggression nach außen beschränkt, sondern auch im Innern viel Leid verursacht. Die deutschen Nazis und die italienischen Faschisten haben in ihren Ländern die Demokratie beseitigt, Minderheiten brutal unterdrückt und abertausende Andersdenkende und „Volksfeinde“ ermordet. Heute lässt die russische Regierung Putin-Kritiker und Journalistinnen ermorden, die Opposition unterdrücken und verführt junge Männer unter Lügen zum Kampf in der Ukraine. Die chinesische Regierung unterhält Konzentrationslager für die uigurische Minderheit in Xinjiang, raubt den Menschen in Hongkong ihre demokratischen Rechte und bastelt an einem zunehmend gruseligen Überwachungsstaat, der Orwells schlimmste Träume wahr werden lässt.

Russland und China

Diktatoren, die ihr eigenes Volk knebeln und Minderheiten unterdrücken, gibt es auf der Welt leider viele. Doch in Russland und China haben wir es mit ganz anderen Dimensionen zu tun. Wladimir Putin und Xi Jinping verfolgen offen imperialistische Ziele. Ihre Verhaltensweisen sind teils genozidal: Völkerrechtlerinnen und Politologen sehen sowohl im russischen Vorgehen in der Ukraine als auch in den chinesischen Verbrechen an Uiguren und Tibetern physischen und/oder kulturellen Völkermord. Insbesondere in Putins Russland, aber auch in China, zeigen sich zudem Tendenzen (Führerverehrung, Vergangenheitskult, Nationalismus, Militarismus, Rassismus usw.), die man wie Anne Applebaum oder andere Historiker als faschistisch bezeichnen kann.

Vor allem aber ähnelte bis vor Kurzem die westliche Reaktion auf die heutzutage von Russland und China ausgehende Bedrohung der britischen Reaktion auf die Herausforderung durch Italien und Deutschland in den 1930er Jahren. Lange hieß es, man dürfe „Russland und China nicht in einen Topf werfen“ (ein gewisser deutscher Diplomat hält auch heute noch daran fest). Stattdessen müsse man verhindern, Russland „in die Arme Chinas zu treiben“ (und umgekehrt). Diese Haltung war vor allem in Deutschland weit verbreitet. Doch spätestens das seit Anfang 2022 bestehende chinesisch-russische Bündnis sowie die Gleichzeitigkeit von Ukraine-Krieg und Taiwan-Konflikt machen klar, dass jegliche Versuche, die beiden Staaten politisch-strategisch zu trennen, hoffnungslos sind. Eine Lösung à la Vansittart hat damals nicht funktioniert und wird auch heute nicht funktionieren.

Die Achse des 21. Jahrhunderts

In der Realität sind nämlich Russland, China und ihre Wasserträger (Belarus, Iran, Nordkorea) so eng verbunden, dass man sie kaum getrennt voneinander betrachten kann. Oder mit anderen Worten: Russland und China sind die Achsenmächte des 21. Jahrhunderts. Zumindest, wenn es um globale Sicherheitsfragen geht. An dieser Stelle eine letzte Parallele zur Historie: Damals wie heute gibt es eine klare Hierarchie der Aggressoren: Hitler war mächtiger als Mussolini, Mussolini wiederum war mächtiger als Franco. Heute verfügt ganz klar das China Xi Jinpings über die größten ökonomischen, militärischen und demografischen Machtmittel. Russland spielt im Bündnis die zweite Geige, die anderen genannten Staaten sind lediglich (wenn auch gefährliche!) Regionalmächte. Mit den abgewandelten lateinischen Worten Vansittarts ausgedrückt, haben wir es heute also mit einer neuen Kombination an „dictator major, dictator minor und dictatores minimi“ zu tun.

Dictator major (oben links), dictator minor (oben rechts), dictatores minimi (unten)
Quellen: Officia do Palácio do Planalto (Jinping) / CC BY 2.0 | Pressebüro des Kreml (Putin, Jong-un, Lukaschenko) / CC BY 4.0 | khamenei.ir (Khamenei) / CC BY 4.0

Pivot to Asia?…

Die eben genannte Tatsache, dass China unter allen revisionistischen Mächten die stärkste ist, hat zu einer Handlungsweise geführt, die oft als „Pivot to Asia“ (Schwenk nach Asien) bezeichnet wird. Darunter versteht man, dass insbesondere die USA den Fokus ihrer außen- und sicherheitspolitischen Aktivitäten mehr und mehr gen Asien richten, während sie ihr Engagement in Europa und im Nahen Osten reduzieren. Und tatsächlich konnte man entsprechende Umschichtungen feststellen, insbesondere im Nahen Osten haben die USA ihre Truppenpräsenz deutlich reduziert. Doch wäre es falsch, einen solchen „Schwenk nach Asien“ nur den USA zu unterstellen. Auch viele europäische Staaten haben sich mehr an Asien orientiert, und zwar insbesondere in wirtschaftlicher Hinsicht.

Der Ukraine-Krieg hat jedoch zu einem Umdenken geführt: Nicht nur engagieren sich die USA massiv in dem Konflikt und helfen der Ukraine mit Waffen, Geld und Hilfsgütern. Sondern es setzt sich auch die Einsicht durch, dass die beiden Schauplätze Europa und Asien eng miteinander verbunden sind. Besonders Osteuropa und Ostasien erscheinen immer mehr als zwei Seiten derselben Medaille. Zu dieser Erkenntnis kommen auch viele Menschen in den betroffenen Regionen. Nicht zufällig trugen taiwanische Schaulustige bei der Ankunft von Nancy Pelosi Mundschutz in den ukrainischen Nationalfarben. Schon zuvor hatte sich Litauen mit einer besonders protaiwanischen Politik profiliert und Taiwan erlaubt, eine Quasi-Botschaft in Vilnius zu errichten. Auch der riesige Waffendeal zwischen Polen und Südkorea ist ein Indiz für die enge Verknüpfung beider Regionen. Und Japan gehört zu den Staaten, die die Sanktionen gegen Russland besonders energisch vorantreiben – sieht man sich in Nippon doch von China, Nordkorea und Russland geradezu umzingelt.

…Jain

Wenn es also seitens der USA und der EU einen „Schwenk nach Asien“ auch künftig gibt, dann in modifizierter Form. Denn Chinas Reaktion auf den russischen Angriff auf die Ukraine und die russische Reaktion auf die neuerliche Taiwan-Krise zeigen, dass Xi Jinping und Wladimir Putin quasi im Gleichschritt marschieren. Wahrscheinlich stimmen sie sich eng ab bei ihren Statements, Provokationen und auch beim militärischen Vorgehen. Auch ich habe mich teilweise geirrt, als ich im März dieses Jahres schrieb, die chinesische Regierung reagiere entgeistert auf Russlands Angriffskrieg. Dies war zwar nicht völlig falsch, doch inzwischen stellt sich China klar auf Putins Seite und nutzt den Krieg für seine eigenen Zwecke. Umgekehrt ist der Taiwan-Konflikt für die russische Regierung eine willkommene Möglichkeit, die Aufmerksamkeit der USA ein Stückchen weg von der Ukraine zu lenken.

Daher ist klar: Auch wenn die strategische und ökonomische Bedeutung Ostasiens in Zukunft weiter zunehmen wird, bleibt Osteuropa ein zentraler Schauplatz. Wird Russland hier entscheidend geschwächt, verliert China faktisch seinen wichtigsten Verbündeten. Dies würde dann wiederum die Umsetzung chinesischer Ambitionen im Südchinesischen Meer und in Ostasien behindern. Umgekehrt hilft die Verhinderung chinesischer Expansion in Asien auch bei der Verteidigung Europas. Denn je geschwächter die beiden imperialistischen Diktaturen China und Russland sind, desto weniger können sie sich gegenseitig mit Waffen, Technologie und Geld sowie politisch und diplomatisch unterstützen. Es ist daher in deutschem und europäischen Interesse, sowohl die russische Aggression in Osteuropa als auch die chinesischen Gelüste in Fernost effektiv einzuhegen.

Der nächste Schauplatz einer Eskalation? Taipeh bei Nacht
Quelle: 毛貓大少爺 / CC BY-SA 2.0

Was Deutschland und der Westen jetzt tun müssen

Als größtes Land der EU spielt Deutschland eine besondere Rolle im Großkonflikt mit Russland und China. Für den europäischen Schauplatz gilt das sowieso. Doch auch in Asien können wir eine aktivere Rolle spielen, um den Frieden zu wahren. Drei Dinge sind dabei besonders dringlich:

  1. Koordination: Europa und Ostasien sind weit voneinander entfernt. Umso wichtiger ist es, unsere Reaktion auf die chinesische Expansion eng mit den pazifischen Staaten abzustimmen. Besonders wichtig sind hier die USA, Australien, Südkorea, Japan, Indien und Taiwan.
  2. Helfen, ohne sich zu verzetteln: Es mag den einen oder anderen geben, der gerne europäische Truppen in Ostasien sehen würde. Doch davon kann man nur abraten: Aufgrund der geografischen Entfernung wäre die Logistik eine Riesenherausforderung. Zudem müssen Europas Armeen sich voll auf die Bedrohung durch Russland konzentrieren – und damit auch die USA entlasten, die derzeit noch viele Truppen in Europa stationiert haben. Stattdessen sollten wir mit ökonomischen Mitteln unsere ostasiatischen Verbündeten unterstützen. Hier ist die EU besonders kompetent und kann dabei helfen, China notfalls von wichtigen Technologien und Exportmärkten abzuschneiden. Dies bringt uns zum dritten – heikelsten – Punkt, der Diversifizierung.
  3. Diversifizierung: Deutsche Wirtschaftsbosse und Unternehmenschefinnen mögen es nicht gerne hören, aber es ist unumgänglich, uns unabhängiger vom chinesischen Markt zu machen. Nicht nur einzelne Unternehmen wie Volkswagen oder BASF sind viel zu abhängig vom Absatzmarkt China. Auch die deutsche Wirtschaft insgesamt muss von der „chinesischen Droge“ loskommen. Schon Corona hat gezeigt, wie schnell Lieferketten für wichtige Güter etwa im medizinischen Bereich gefährdet sein können. Sollte erst ein Krieg in Ostasien ausbrechen, hätten wir noch größere Probleme, viele Dinge des täglichen Bedarfs zu erhalten. Auch wenn es teurer wird, woanders zu produzieren: Es gilt das Primat der Politik. Sicherheit und Frieden sind im Zweifel wichtiger als wirtschaftliche Gewinne. Wir werden einen Teil unseres Wohlstands opfern müssen, um Frieden und Freiheit zu sichern.

Fazit

Die Zeiten werden rauer. Wie in den 1930er Jahren wird auch heute die bestehende Weltordnung durch aggressive und imperialistische Mächte herausgefordert. Russland und China wollen die aktuelle Machtverteilung revidieren und stellen für ihre Nachbarn eine existenzielle Bedrohung dar. Im Falle der Ukraine sehen wir täglich das Leid und die Zerstörung, die Putins Mordmaschinerie über das Land bringt. Und auch in Ostasien drohen militärische Konflikte, insbesondere um Taiwan. Die regionalen Konfliktfelder sind dabei eng miteinander verknüpft. Was in Osteuropa geschieht, beeinflusst auch das Schicksal Ostasiens – und umgekehrt. Daher müssen Deutschland und die EU sich von den autoritären Diktaturen Russland und China unabhängig machen, ihr Militär stärken und gemeinsam mit Verbündeten überall auf der Welt kooperieren. Nur wenn die Demokratien der Welt stark bleiben und zusammenhalten, werden sie ihren Wohlstand, die Freiheit und den Frieden wahren können.

Der Ukraine-Krieg und seine Folgen

Es ist Krieg in Europa. Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 beginnt eine neue Phase der europäischen Geschichte. Mit meiner Prognose vom Januar 2022, ein Krieg in der Ukraine sei sehr wahrscheinlich, habe ich leider Recht behalten. Das Wort von der „Zeitenwende“, welches Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bemüht, trifft diese Situation sehr gut. Denn mit dem Ukraine-Krieg gibt es zum ersten Mal seit 1939/45 einen klassischen zwischenstaatlichen Angriffskrieg in Europa. Ein solcher hat nicht nur theoretisch-völkerrechtlich, sondern auch praktisch-politisch eine andere Dimension als etwa die Bürgerkriegsinterventionen der 1990er Jahre auf dem Balkan. Aus diesem und vielen weiteren Gründen (siehe nächster Abschnitt) ist es auch legitim, dem Krieg in der Ukraine aus europäischer Sicht deutlich mehr Aufmerksamkeit zu schenken als den fürchterlichen Ereignissen in anderen Weltregionen.

Ein zerstörtes Haus bei Chernihiv, Nordukraine
Quelle: Staatlicher Dienst für Notfallsituationen der Ukraine / CC BY 4.0

Ukraine-Krieg: Der Stand der Dinge

Aktuell kann noch niemand mit Gewissheit sagen, wie der Ukraine-Krieg ausgehen wird. Verlässliche Infos über den Frontverlauf, militärische und zivile Verluste sowie den Zustand der Kriegsparteien sind schwer zu bekommen. Die meiner Einschätzung nach verlässlichsten Informationen teilen derzeit der britische Militärgeheimdienst sowie eine Reihe meist US-amerikanischer Militärjournalisten (etwa 1, 2, 3), die sich auf Open Source Intelligence (OSINT) spezialisiert haben. Die hier verlinkten Akteure sind allesamt auf Twitter aktiv. Da sich die Lage in der Ukraine häufig ändert, möchte ich hier indes nicht weiter darauf eingehen, sondern mich mit grundsätzlicheren Fragen befassen.

Unabhängig vom Verlauf des Krieges ist das derzeitige Ausmaß der internationalen Solidarität mit der Ukraine bemerkenswert. Aus aller Welt erreichen Waffen und Hilfslieferungen das Land. Polen und Ungarn, eben noch die Staaten mit einer eher ablehnenden Haltung zu Migration, nehmen Millionen ukrainischer Flüchtlinge auf (auch wenn ein rassistischer Aspekt bei der Unterscheidung zwischen „guten“ ukrainischen und „schlechten“ syrischen Flüchtlingen keineswegs zu leugnen ist). Auch in anderen europäischen Staaten wie Rumänien, der Slowakei und auch Deutschland werden viele hilfsbedürftige Menschen aufgenommen. Deutschland legt eine 180°-Wende in der Sicherheitspolitik hin. In vielen Städten weltweit gibt es Massendemonstrationen gegen Wladimir Putin und seinen verbrecherischen Angriffskrieg. All dies ist gut und zeigt, dass internationale Solidarität kein leeres Schlagwort ist. Doch dürften die langfristigen Folgen des Krieges noch deutlich mehr Aufmerksamkeit von uns erfordern.

Im Folgenden erläutere ich daher zunächst, warum der Ukraine-Krieg unsere besondere Aufmerksamkeit verlangt, gerade auch im Vergleich zu anderen Konflikten der jüngeren Zeit. Anschließend möchte ich wahrscheinliche Folgen des Krieges für die internationale Politik darlegen. Zum Abschluss und als Teil des Fazits werde ich dann einige Handlungsoptionen aus deutscher bzw. europäischer Sicht skizzieren.

Warum der Krieg in der Ukraine für uns so wichtig ist

Auch abseits der Flüchtlingsfrage (wo der Vorwurf, siehe oben, berechtigt ist) wird öffentlich von einigen Menschen argumentiert, die große Anteilnahme am Ukraine-Krieg im Vergleich zur geringeren Anteilnahme an anderen Konflikten zeige rassistische Einstellungen. Ich halte dieses Argument für falsch. Dass die Ukraine international und besonders in Europa und im „Westen“ generell mehr Aufmerksamkeit erhält als etwa die Bürgerkriege in Syrien, im Jemen und in Libyen, hat handfeste Gründe:

  1. Die Ukraine ist uns in Europa deutlich näher, die Auswirkungen der Kämpfe erreichen uns also früher und in stärkerer Form. Diese Nähe ist dabei nicht nur physisch, sondern auch psychologisch ein wichtiger Faktor.
  2. Es gibt mehr persönliche Verbindungen zwischen Ukrainern und Westeuropäern, daher ist die persönliche Anteilnahme logischerweise höher, insbesondere wenn es um eigene Familienmitglieder geht.
  3. Geostrategisch ist die Ukraine aus Sicht der EU- und NATO-Mitglieder ungleich bedeutsamer als etwa Syrien oder Jemen.
  4. Anders als in den meisten Bürgerkriegen gibt es im Ukraine-Krieg eine glasklare Aufteilung in Täter (Russland) und Opfer (Ukraine). Der Kampf „Gut gegen Böse“ wird noch verstärkt durch den Eindruck einer Auseinandersetzung „David gegen Goliath“. In Syrien beispielsweise wüsste man doch gar nicht, welche Konfliktpartei man als am verachtenswertesten einstufen sollte: Das Assad-Regime? Den IS? Die anderen islamistischen Rebellen? Die Zeiten, als die „Freie Syrische Armee“ westliche Sympathien genoss, sind längst vorbei. Denn diese einst halbwegs demokratisch gesinnte Rebellengruppe ist teils zerstört, teils zu den Islamisten übergelaufen. Ähnliche Schlussfolgerungen lassen sich auch in Mali, Libyen und Jemen ziehen.
  5. Vor allem aber handelt es sich beim Ukraine-Krieg um den ersten vollumfänglichen Angriffskrieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Und auch außerhalb Europas muss man für den jüngsten offenen zwischenstaatlichen Angriffskrieg fast 20 Jahre zurückgehen, nämlich bis zum Irak-Krieg des Jahres 2003. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist eindeutig völkerrechtswidrig und verstößt eklatant gegen Artikel 2 der UN-Charta. Dieser Artikel verbietet es den Mitgliedstaaten, Kriege gegen ihre Nachbarn zu führen.

All dies ändert nichts daran, dass die Menschen in Syrien oder Jemen genauso stark leiden wie die in der Ukraine. Zugleich ist klar, dass die russische Invasion der Ukraine eine neue Dimension internationaler Aggression, insbesondere auf europäischem Boden, darstellt. Doch welche Folgen hat der Konflikt schon jetzt und in Zukunft?

Die Folgen von Putins Angriffskrieg

Die Gute Nachricht zuerst: Wladimir Putin erreicht mit seinem Vernichtungsfeldzug gegen die Ukraine in allen Punkten das exakte Gegenteil dessen, was er sich vorher ausgerechnet hat:

Die Ukraine

Putin wollte die Ukraine mit einem Blitzkrieg-Feldzug „heim ins Reich“ holen. Doch dieser Versuch ist krachend gescheitert am Widerstand der ukrainischen Armee und des ukrainischen Volkes. Putin hat sich offenbar in seine eigene verlogene und historisch leicht widerlegbare Propaganda verrannt, die die Ukraine als „Nicht-Staat“ und ihre Bewohnerinnen und Bewohner als „Nicht-Volk“ verhöhnt. Doch die ukrainischen Streitkräfte leisten seit dem ersten Tag der Invasion den russischen Angreifern erbitterten Widerstand. Der Ukraine-Krieg dürfte lang und leider sehr blutig werden – für alle Beteiligten.

Auch wenn konkrete Zahlen dazu schwer zu bekommen und die Angaben der Konfliktparteien mit größter Vorsicht zu genießen sind, schält sich ungefähr folgendes Verhältnis heraus: Für jeden getöteten ukrainischen Soldaten sterben 1,5 bis 2 russische. Bei den Panzern, Fahrzeugen, Geschützen, Hubschraubern und Flugzeugen liegt die Verlustquote derzeit bei 1:3 bis 1:4. Und das sind nur die sicher dokumentierten Verluste. Fakt ist: Selbst wenn Russlands Armee diesen Krieg doch noch gewinnen sollte, wäre es ein klassischer Pyrrhussieg. Und dieser wird die Einsatzbereitschaft der russischen Armee auf Jahre hinaus deutlich reduzieren. Ganz zu schweigen von dem, was Russlands Armee blüht, wenn sie eine Besatzung der Ukraine organisieren müsste. Denn eines steht fest: Der Angriff auf das ukrainische „Brudervolk“ hat selbiges zu Putins und Russlands entschlossenstem Feind gemacht.

Bei der nachvollziehbaren Freude über das partielle russische Scheitern sollte man jedoch nicht denselben Fehler begehen wie die deutsche Regierung im Zweiten Weltkrieg. Nach dem Desaster, das die sowjetische Armee in Finnland 1939/40 erlebt hatte, wurde die Kampfkraft der Roten Armee chronisch unterschätzt. Dies war einer der Gründe für den verheerenden Entschluss Hitlers, 1941 die Sowjetunion anzugreifen. Nun plant im Westen zum Glück niemand einen NATO-Feldzug gegen Russland. Doch sollten wir uns nicht in falscher Sicherheit wiegen, nur weil die Russen in der Ukraine bisher so schwach auftreten. Die Ertüchtigung der europäischen Verteidigung bleibt richtig und wichtig, denn auch die Russen werden aus ihrem Ukraine-Desaster ihre Lehren ziehen.

Einer von zahlreichen zerstörten russischen Militärkonvois in der Ukraine
Quelle: Ukrainisches Innenministerium / CC BY 4.0

Der Westen

Auch hier hat Putin sich verkalkuliert. Er rechnete offenbar mit einigen symbolischen Sanktionen, die nach seinem erwarteten schnellen Sieg rasch aufgehoben würden. Eine krasse Fehleinschätzung. Die Wirtschaftssanktionen, die die EU, die USA, Großbritannien und weitere Staaten gegen Russland verhängt haben, sprengen alles bisher Dagewesene. Noch nie in der Geschichte wurde eine Atom- und Großmacht mit derartigen Sanktionen belegt: Weitgehender Ausschluss aus dem Swift-System, Ende von Nord Stream 2, Exportverbote für Hightech-Güter, Rückzüge von Unternehmen, Kontosperrungen, eingefrorene Oligarchen-Vermögen, geschlossene Lufträume und, und, und.

Schon jetzt ist die russische Wirtschaft angeschlagen, der Rubel und die Exporte sind eingebrochen, das BIP könnte im zweiten Quartal um mehr als 35 % einbrechen. Die USA haben darüber hinaus bereits ein Ölembargo verhängt. Bei weiteren russischen Kriegsgräueln, etwa in Mariupol oder Charkiw, ist denkbar, dass sich die Europäer dem anschließen. Dies wäre der Todesstoß für die russische Ökonomie und den russischen Staat, der sich zu rund 43 % aus den Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft finanziert.

Quicklebendig dank Putin: Die NATO
Quelle: gemeinfreies Logo

Zudem agiert der Westen geschlossen und koordiniert. Transatlantische Spaltung, Brexit, NATO-„Hirntod“, EU-Fehden: alles vergessen. Dies ist eines der wenigen erfreulichen Resultate dieses furchtbaren Krieges, der so viel menschliches Leid verursacht. Auch rüsten westliche Staaten, insbesondere europäische wie Deutschland, nun massiv auf: zwei Prozent jährlich für Verteidigung, 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr. Vor Kurzem hätte dies noch einen Aufschrei ausgelöst. Doch nun ist der Widerstand dagegen sehr begrenzt, weil die Menschen wissen, dass mit dem Ukraine-Krieg eine neue Zeit angebrochen ist. Und diese neue Zeit erfordert nun einmal neue Antworten, auch wenn diese nicht schön sind. Wichtig ist dabei, dass die NATO einerseits nicht überreagiert, andererseits sich aber auch aus der „Berechenbarkeitsfalle“ heraus bewegt, die ihr der britische Diplomat John Raine attestiert hat.

China

Der russische Präsident war sich auch hier sicher: China würde ihm nicht nur nicht in den Arm fallen, sondern seinen Feldzug gegen die Ukraine in der einen oder anderen Form unterstützen. Auch dies dürfte sich als Fehlschluss Putins herausstellen. Zwar gibt es zu Recht größeres Rätselraten im Westen über die teils widersprüchlichen Reaktionen (etwa die Enthaltung im UN-Sicherheitsrat) der chinesischen Regierung. Doch kann sich die chinesische Regierung, trotz aller öffentlichen Ambivalenz in ihren Äußerungen, kaum über die russische Invasion freuen. Und dies hat mehrere Gründe:

  1. Die Argumente Wladimir Putins vor und während des Einmarsches sind aus chinesischer Sicht verheerend. Putin sprach oft davon, in der Ostukraine finde ein „Völkermord“ an Russen statt. Dies rechtfertige ein Eingreifen in der Ukraine. Für Präsident Xi Jinping, der seit Jahren schon einen zumindest kulturellen Genozid an den Uiguren in Westchina durchführen lässt, ist dies eine fatale Argumentation. Denn setzt sich diese Rechtsauffassung völkerrechtlich und moralisch international durch, muss er selbst mit mehr Kritik und Sanktionen für seinen Umgang mit den Uiguren rechnen.
  2. Auch dass Putin die beiden Separatistengebiete Donezk und Luhansk als unabhängige Staaten anerkannt hat, ist für China ein Graus. Schließlich verurteilt die chinesische Regierung bei jeder Gelegenheit „separatistische Aktivitäten“. Dies ist meist auf Taiwan, aber auch auf Hongkong gemünzt. Dort will China durchgreifen, und insbesondere im Konflikt um Taiwan argumentiert Xi Jinping auch mit der territorialen Unverletzlichkeit der Grenzen. Tatsächlich wird Taiwan nur von wenigen Staaten anerkannt. Doch wenn China Putin seine proseparatistische Nummer durchgehen lässt, wird es argumentativ künftig eng für Peking.
  3. Die neue westliche Geschlossenheit und das Wiederaufblühen von EU und NATO ist auch für China schlecht. Denn es muss nun mit größerer westlicher Skepsis gegenüber Autokratien ebenso rechnen wie mit verstärkter Gegenwehr, sollte China sich expansiv und völkerrechtswidrig verhalten. Dies gilt etwa für chinesische Ambitionen in Taiwan, Hongkong und im Südchinesischen Meer.
  4. Schließlich ist Russland aufgrund der hohen militärischen Verluste und der wirtschaftlichen Sanktionen auf Jahre bis Jahrzehnte massiv geschwächt. Als Anfang 2022 China und Russland einen „Freundschaftsvertrag“ abschlossen, war die chinesische Regierung davon ausgegangen, einen mächtigen Verbündeten zu gewinnen. Doch unabhängig davon, ob die Chinesen über den Angriff auf die Ukraine informiert waren oder nicht: Der Ukraine-Krieg wird Russland schwächen. Und an schwachen Alliierten hat niemand ein Interesse. Wenn man es zuspitzen wollte, könnte man sogar einen interessanten historischen Vergleich ziehen: Wladimir Putin könnte machtpolitisch für Xi Jinping zunehmend das werden, was Benito Mussolini in den 1940er Jahren für Adolf Hitler wurde: Der dusselige Verbündete, der ständig neue Konfliktherde aufmacht, dort scheitert und dann den „großen Bruder“ (damals Deutschland, heute China) mit reinzieht. Und wie die „Männerfreundschaft“ zwischen Hitler und Mussolini ausgegangen ist, wissen wir ja…

Fazit

Putin hat seinen verbrecherischen Feldzug lange vorbereitet: Er hat seit Jahren giftige antiukrainische Propaganda verbreitet. Er hat seine Armee aufgerüstet. Er hat den Westen und insbesondere Deutschland mit dem Versprechen auf goldene Wirtschaftsbeziehungen eingelullt. Er hat, auch dies eine Parallele zu Hitler und Mussolini, wie einst die beiden faschistischen Diktatoren im Spanischen Bürgerkrieg in Syrien seine Waffensysteme getestet und dabei Tausende Unschuldige umgebracht. Und er hat die Krim annektiert und den Donbass destabilisiert. Und nie hat der Westen entschlossen eingegriffen. Dass Appeasement aus einer Position der Schwäche nicht wirkt, hätte eigentlich eine weitere Lehre der Geschichte sein können. Aber zu viele wollten nicht wahrhaben, was ist.

Nun ist schnelles, entschlossenes Handeln angesagt. Der Ukraine-Krieg wird langfristige Folgen weit über Osteuropa hinaus haben. Die Weltordnung wird instabiler, Gewalt hoffähiger. Doch wir können reagieren. Eine größere Unabhängigkeit von russischem Gas, Öl und Kohle sind bereits in Planung. Der dazu nötige schnellere Ausbau der erneuerbaren Energien muss notfalls gegen Widerstände durchgezogen, Planungsverfahren beschleunigt werden. Jede und jeder von uns kann seine Heizung ein paar Grad kühler einstellen. Wer kann, sollte sein Auto öfters stehen lassen, sein Haus dämmen und allgemein sparsamer mit fossilen Energien umgehen.

Das Europäische Parlament in Straßburg
Quelle: Ralf Roletschek / CC-BY 3.0)

Vor allem aber müssen wir unsere Außen-, Sicherheits- und nicht zuletzt Europapolitik fundamental umstellen. Die angekündigten Mehrausgaben für Verteidigung sind da nur ein erster, wenn auch wichtiger Schritt. Die Idee einer Europäischen Armee muss nun in die konkrete Umsetzung gehen. Dazu werde ich später und an anderer Stelle noch etwas schreiben. Dabei gibt es keine Zeit zu verlieren, denn die europäische Sicherheit hat womöglich ein Verfallsdatum: den 20. Januar 2025. Sollte an diesem Tag Donald Trump oder ein anderer US-Republikaner ins Weiße Haus einziehen, könnte es für unseren Kontinent schwierig werden. Schließlich sind weite Teile von Trumps Partei der NATO und Europa gegenüber offen feindselig eingestellt. Und auf dieses mögliche Szenario, nämlich dass die Europäer praktisch von heute auf morgen auf eine eigene unabhängige Verteidigung angewiesen sind, müssen wir vorbereitet sein.

Bis dahin muss also der vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron in die Welt gesetzte Begriff der „europäischen Souveränität“ mit Leben gefüllt werden. Denn eines ist klar: Putin mag den Krieg in der Ukraine gewinnen oder verlieren. Doch auch unabhängig von ihm gibt es genügend Bedrohungen in der Welt, die wir als Europäerinnen und Europäer nur gemeinsam werden bewältigen können.

Deutsche Ukraine-Politik – Ein Versagen in Reinform

Er ist zweifellos der gefährlichste Konflikt in Europa, und zudem einer der brisantesten in der aktuellen geopolitischen Lage: der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine, der mit dem Aufmarsch von über 100.000 russischen Soldaten an der ukrainischen Grenze in eine neue akute Phase eingetreten ist. Deutschland spielt als eines der wichtigsten Länder in der EU und in der NATO eine besondere Rolle in diesem Konflikt. Doch leider versagt die deutsche Außenpolitik derzeit dabei, den drohenden Krieg abzuwenden und Sicherheit und Frieden auf dem europäischen Kontinent sicherzustellen. Wolfgang Ischinger, einer der erfahrensten deutschen Diplomaten und Chef der Münchener Sicherheitskonferenz, drückt die deutsche Blamage treffend in einem Tweet aus:

In diesem Artikel möchte ich zunächst skizzieren, weshalb die deutsche Ukraine-Politik so fatal ist. Anschließend werde ich mich mit den Folgen dieser Politik auseinandersetzen, bevor ich schließlich beschreibe, wie unsere Außenpolitik in der Ukraine-Frage künftig aussehen muss.

1. Die Defizite der deutschen Ukraine-Politik

Es ist ja richtig: Die Ukraine ist weder Mitglied der NATO noch der EU. Trotzdem ist Deutschland insbesondere aufgrund der geografischen Nähe, seiner Geschichte, eigenen Interessen sowie der eindeutigen Verteilung von Täter- und Opferrollen in diesem Konflikt moralisch und strategisch dazu verpflichtet, der Ukraine in ihrer Auseinandersetzung mit dem Aggressor Russland beizustehen. Doch von echter, über Lippenbekenntnisse und das typisch-deutsche unvermeidliche „Zeichen setzen“ hinausgehender Solidarität mit der Ukraine gibt es kaum eine Spur. Stattdessen tut Deutschland gerade vieles, um die Position der Ukraine zu schwächen und diejenige Russlands zu stärken:

a) Die Inbetriebnahme der unsäglichen Gaspipeline Nord Stream II (eine ausführliche Auseinandersetzung meinerseits mit der Pipeline hier) ist immer noch nicht ausgeschlossen worden. Die Pipeline ist ein hervorragendes Druckmittel der russischen Regierung, um Polen und die Ukraine als Transitländer für Erdgas auszuschalten oder diesen Ländern gar komplett des Gashahn abzudrehen.

Außenministerin Annalena Baerbock (2021)
Quelle: Sandro Halank / CC BY SA 4.0

b) Außenministerin Annalena Baerbock hat ebenso wie andere deutsche Stellen wiederholt die Lieferung dringend benötigter Verteidigungswaffen an die Ukraine abgelehnt. Dabei berufen Baerbock und Andere sich auf die „schwierige deutsche Geschichte“, womit Deutschlands Verbrechen während des Zweiten Weltkrieges gemeint sein sollen. Ein offensichtlicheres Herausmogeln aus historischer Verantwortung hat man selten erlebt. Im Klartext bedeutet die offizielle deutsche Haltung nämlich Folgendes: Im Zweiten Weltkrieg haben die Deutschen unter anderem die Ukraine (damals Teilstaat der Sowjetunion) völkerrechtswidrig überfallen und verwüstet. Daraus ziehen wir heute die Lehre, der Ukraine keine deutschen Waffen zu liefern, um sich gegen eine völkerrechtswidrige Aggression zu verteidigen. Mit Verlaub, eine solche idiotische Logik kann man niemandem mehr erklären! Zudem ist dies eine Verhöhnung der rund acht Millionen ukrainischen Opfer des Zweiten Weltkrieges (gemessen an der Bevölkerungszahl hat die Ukraine übrigens weit mehr Menschen im Weltkrieg verloren als Russland).
Auch das – schon aus anderen Konflikten bekannte – deutsche Mantra „es gibt keine militärische Lösung“ verdeutlicht das Nichtwahrhabenwollen führender deutscher Akteurinnen. Schon Angela Merkel brachte diesen heiteren Sinnspruch immer wieder, und Annalena Baerbock tut es ihr nun gleich. Dabei gibt es selbstverständlich eine militärische Lösung in diesem Konflikt, nur halt nicht in unserem Sinne! Und die sieht so aus: Russland greift die Ukraine an, besetzt das Land, fertig. Der Konflikt ist dann „militärisch gelöst“, schlichtweg weil eine der Konfliktparteien nicht mehr existiert. So ähnlich lief es schon in Georgien und Syrien.

c) Nicht erst seit Beginn der aktuellen Zuspitzung, sondern schon seit Jahren beobachte ich ein ahistorisches, von geschichtlicher und außenpolitischer Unkenntnis zeugendes Appeasement gegenüber Putin seitens diverser Vertreter der deutscher Eliten. Der irrlichternde Admiral Kay-Achim Schönbach und seine verheerenden Aussagen bei seinem Indien-Trip sind da nur das jüngste Beispiel. Stefan Kornelius bezeichnete Schönbach dafür zu Recht als „das Gesicht der deutschen Ukraine-Verwirrung“ (SZ vom 24. Januar 2022, Seite 4). Älter, und schlimmer, ist die ambivalente Haltung vieler Vertreter aus allen Parteien.
So hat sich der neue CDU-Chef Friedrich Merz gegen einen wirksamen Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-System ausgesprochen. Der Ex-Aufsichtsratsvorsitzende von BlackRock Deutschland hat damit als einer von vielen deutschen Politikern Wirtschaftsinteressen öffentlich den Vorzug gegenüber der internationalen Solidarität mit der Ukraine gegeben. Auch der gewohnt wankelmütige CSU-Chef Markus Söder sprach sich gegen harte Sanktionen aus, will Nord Stream II öffnen und bezeichnete Russland allen Ernstes lediglich als „schwierigen Partner“ der EU. Mit AfD und Linkspartei sitzen ferner zwei Fraktionen im Bundestag, die außenpolitisch komplette Totalausfälle sind, wie nicht nur die russlandpolitischen Einlassungen von Leuten wie Klaus Ernst und Alexander Gauland zeigen. Ein besonderes Problem habe ich leider auch mit der Außen- und Russlandpolitik von Teilen meiner eigenen Partei, der SPD. Die Haltung (zu) vieler führender Sozialdemokraten kann ich nur als äußerst schwierig bezeichnen. Sie verdient aber ein eigenes Unterkapitel.

d) In der SPD gibt es seit Jahren eine zu beobachtende russlandfreundliche Tendenz. Dies wäre nicht weiter schlimm, wäre die russische Regierung unter Wladimir Putin nicht ständig dabei, weite Teile Osteuropas und anderer Weltgegenden (Georgien, Libyen, Syrien, Mali etc.) zu destabilisieren. Besonders auffällig geworden sind in dieser Sache etwa Kevin Kühnert, Ralf Stegner und Matthias Platzeck. Die Einstellung dieser und manch anderer SPD-Mitglieder fußt dabei meiner Einschätzung nach auf drei Fundamenten:

Erstens: SPD-Altkanzler Gerhard Schröder ist Aufsichtsratsvorsitzender der Nord Stream AG. Schröder ist damit, bei allen Verdiensten, die er als Kanzler hatte, leider längst Lobbyist in russischen Diensten. Seine jüngsten Äußerungen und Warnungen vor ukrainischem „Säbelrasseln“ verdeutlichen diese traurige Tatsache. Die nach wie vor vorhandene persönliche Bindung mancher führender SPD-Mitglieder an Schröder manifestiert sich offenbar auch in einer oft unkritischen Haltung gegenüber der russischen Regierung.

Gerhard Schröder mit seinem Brötchengeber Wladimir Putin (2005)
Quelle: Kreml / CC BY 3.0
  • Zweitens: In der SPD gibt es eine wichtige, wenn auch sich in der Minderheit befindende Traditionslinie des Pazifismus. Pazifismus als solcher ist ja auch zutiefst ehrenwert. Doch leider lehrt uns die Welt, dass Pazifismus Grenzen hat: Wenn Menschen oder Staaten Opfer unprovozierter Aggression werden, wenn Potentaten wie Putin tausende Menschen töten lassen, um Macht zu gewinnen, darf man nicht wegschauen. Notwehr – sei es ökonomisch, sei es militärisch – ist dann leider geboten. Das heißt keineswegs, dass man ständig überall intervenieren sollte. Bloß nicht! Doch sollten potenzielle Aggressoren zumindest mit Widerstand rechnen müssen. Noch besser ist es freilich, so stark zu sein, dass aggressive Mächte gar nicht erst in die Versuchung kommen, sich aufzuspielen. In der SPD ist diese Einsicht aber leider noch nicht bei jedem angekommen. Sozialdemokratische Außenpolitik geht daher oft leider auf Kosten der internationalen Solidarität mit unseren osteuropäischen Freunden – und damit auch auf Kosten eines anderen wichtigen Grundwertes der deutschen Sozialdemokratie (siehe SPD-Grundsatzprogramm, Seite 19).
  • Drittens: Immer wieder sprechen manche Sozialdemokraten öffentlich davon, die „Neue Ostpolitik“ Willy Brandts wiederzubeleben. Dies wäre tatsächlich keine schlechte Idee, nur leider vergessen diejenigen, die dies fordern, oft zentrale Aspekte dieser Ostpolitik. So war es eine unverzichtbare Grundlage der Ostpolitik der 1970er Jahre, dass Deutschland aus einer Position der Stärke heraus verhandelt hat. Konkret stieg unter Willy Brandt trotz erheblichen Wirtschaftswachstums der Anteil der Verteidigungsausgaben am BIP von 3,6 % auf 4,0 %. Der ehemalige verteidigungspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Fritz Felgentreu, hatte schon Ende 2019 darauf hingewiesen. Leider gehört er heute nicht mehr dem Bundestag an (weitere positive Ausnahmen unter den SPD-Außenpolitikern sind etwa die Abgeordneten Nils Schmid und Michael Roth. Ich hoffe sehr, dass ihre und meine Position sich durchsetzt). Diese Stärke war Grundvoraussetzung dafür, von der sowjetischen Führung ernstgenommen zu werden. Außerdem wird oft vergessen, dass die Sowjetunion sich ohnehin keinen Krieg mit der NATO hätte erlauben können – dieser hätte aus bekannten Gründen schließlich das Ende der Welt bedeutet. Doch Russlands Nachbarn (besser: Opfer) wie Georgien und die Ukraine gehören eben nicht der NATO an. Sie sind leichte Beute, und ein Krieg gegen diese Staaten bedeutet aus russischer Sicht eben keine Apokalypse, sondern ein lohnenswertes Unterfangen. Zumindest, solange der Westen nicht angemessen reagiert. Als Historiker bin ich immer dafür, aus der Geschichte zu lernen. Allerdings müssen historische Vergleiche schon ein vollständiges Bild zeichnen und nicht dazu dienen, die Realität zu verzerren oder platte Gleichsetzungen ohne Berücksichtigungen von Unterschieden und historischem Kontext vorzunehmen.
Willy Brandt (1980)
Quelle: Bundesarchiv / CC BY SA 3.0

2. Die Folgen unserer Politik

Damit wären wir bei den schwerwiegenden Folgen der unsäglichen deutschen Politik im Ukraine-Konflikt. Glücklicherweise, muss man sagen, wird Deutschlands Ausfall ein Stück weit kompensiert durch die aktive und entschlossenere Haltung, die etwa die polnische, die britische und die US-amerikanische Regierung einnehmen. Doch selbst diese einflussreichen Staaten können das deutsche Versagen nicht vollständig ausgleichen. Konkret hat die deutsche Außenpolitik, die in wesentlichen Elementen schon unter Angela Merkel so betrieben wurde, nämlich nur eine Folge: Ein Krieg Russlands gegen die Ukraine wird durch sie wahrscheinlicher. Bei SWIFT wird gezaudert. Bei Nord Stream II wird gezögert. Und der Ukraine werden deutsche Waffenlieferungen vorenthalten (selbst dann, wenn es nur um aus Deutschland stammende Waffen geht). Dadurch kann sich die Ukraine schlechter verteidigen und wird zu einem attraktiveren Ziel für Putin.

Einmal mehr zeigt sich, dass Kriege in der Regel nicht aus Rüstungswettläufen entstehen, sondern wenn eine militärisch starke expansive Macht wie Russland auf deutlich schwächere Opfer wie die Ukraine trifft. Und dass die russische Regierung die Ukraine bedroht, kann nicht ernsthaft bezweifelt werden. Sowohl Putins gruselig-geschichtsrevisionistisches Ukraine-Essay vom Sommer 2021 als auch die aggressiv-einseitige Berichterstattung des Kreml-Senders Russia Today machen klar, dass die Ukraine auf Putins Abschlussliste steht. An dieser Stelle muss daran erinnert werden: Putin ist zweisprachig. Er versteht die Sprache der Macht und die der Gewalt. Wer den Gebrauch der letzteren nicht provozieren will, muss daher die Sprache der Macht lernen, um sich Putin verständlich zu machen. Der russische Präsident sieht im Untergang der Sowjetunion „die größte geopolitische Katstrophe des 20. Jahrhunderts“ und positioniert Russland als revisionistische Macht, die nach eigenem Ermessen die Grenzen verschiebt und schwächere Staaten zerstört oder in ihre Abhängigkeit treibt.

Neben den unmittelbaren Folgen drohen aber auch langfristige Nachteile für Deutschland: Nicht nur die russische, sondern auch die chinesische Regierung werden sich das deutsche Verhalten merken. Sie wissen nun: Mit Deutschland müssen sie nicht rechnen, egal ob Russland die Ukraine attackiert oder China eines Tages Taiwan angreift. Zudem schwächt und spaltet Deutschland die EU sowie die NATO und macht sich so bei seinen osteuropäischen Verbündeten, aber auch bei Briten und US-Amerikanern unmöglich. Wie Wolfgang Ischinger völlig richtig analysiert, gibt unsere Außenpolitik den baltischen Staaten, Polen, Rumänien und anderen null Anlass, an eine gemeinsame europäische Armee und Außenpolitik zu glauben. Die Regierungen Russlands und Chinas, des Iran und Nordkoreas lachen sich angesichts dieser deutschen und europäischen Tollpatschigkeit völlig zu Recht ins Fäustchen.

3. Fazit: Was zu tun ist

Es ist deutlich geworden, dass die deutsche Ukraine-Politik in eine Sackgasse führt. Unsere handelnden Politikerinnen und Politiker müssen dringend umschwenken. Die Ukraine braucht keine fruchtlosen Appelle, sondern konkreten Beistand in Form von Waffen, Ausrüstung, Geld und einem realistischen Pfad zur Mitgliedschaft in EU und NATO. Sollte Russland die Ukraine tatsächlich angreifen, muss Russland aus dem SWIFT-System fliegen, auch wenn es deutsche Handelsinteressen tangiert. Nord Stream II muss ein Ende finden, und zwar auch dann, wenn die maximale Eskalation diesmal ausbleibt. Schließlich gilt es, den russischen Staat nicht unnötig mit Euros zu mästen, die er dann wieder in die Rüstung stecken kann. Die Energiewende hat eben nicht nur klimapolitische, sondern auch strategische Implikationen.

Glücklicherweise bin ich mit meiner Haltung nicht alleine. Dies gilt auch für die SPD. Sowohl bei persönlichen Treffen mit anderen SPD-Mitgliedern als auch in sozialen Medien sehe ich, dass insbesondere jüngere Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten die Politik der Parteispitze kritisch sehen und sich mehr Unterstützung für die Ukraine wünschen. Auch ist eine realistische Haltung zur Europa-, Außen- und Sicherheitspolitik anders als früher vor allem unter jungen SPD‑Mitgliedern weit verbreitet. Das gibt mir Hoffnung. In diesem Sinne wünsche ich mir, dass sich die SPD-Spitze besinnt, sich an Willy Brandts erfolgreicher Außenpolitik orientiert, eine realistische Sicherheitspolitik betreibt und der Ukraine in ihrem Konflikt mit Russland entschlossen beisteht.

So können wir gemeinsam arbeiten für den Frieden. Denn in einem sind wir uns in der SPD einig:

„Der Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne den Frieden nichts.“

Willy Brandt