Weimar reloaded? Über die neuen, alten Mittelparteien

Oder: Warum schwächeln die Volksparteien?

Abgesänge auf die guten, alten Volksparteien gibt es zuhauf. Das Ende der Volksparteien wird schon seit einigen Jahren insbesondere in Deutschland derart intensiv besungen, dass man schon fast vom Topos „Aussterben der Volksparteien“ sprechen darf. Für politisch Interessierte stellen sich dabei mehrere Fragen: Was ist überhaupt eine Volkspartei? Warum sind ihre Tage derzeit offenbar gezählt? Und was tritt an ihre Stelle?

1. Was ist eine Volkspartei?

Volksparteien sind nicht nur ein Gegenstand wissenschaftlicher Forschung und tagesaktueller Berichterstattung, sondern mindestens so sehr ein Mythos. Wobei der Mythos nicht zuletzt dadurch entstehen konnte, dass es eben keine eindeutige Definition des Begriffes „Volkspartei“ gibt, da sich weder Geschichts- noch Politikwissenschaft auf eine solche haben einigen können. In die wissenschaftliche Diskussion eingeführt wurde der Begriff 1965 von Otto Kirchheimer mit seinem Artikel „Der Wandel des westdeutschen Parteisystems“, in dem er allerdings von „Catch-All-Parties“ sprach. Die Übersetzung dieses Begriffes mit „Volkspartei“ ist auch aufgrund seiner normativen Konnotation nicht unumstritten (siehe etwa hier, Seite 5), hat sich allerdings durchgesetzt. Die Bundeszentrale für politische Bildung schreibt heute, eine Volkspartei sei ein „Typ einer politischen Partei, die mit ihrem Programm nicht nur begrenzte Interessengruppen anspricht und deshalb Anhänger und Wähler in allen Bevölkerungsschichten hat“.

Diese Definition kann gut als Minimalkonsens gelten, was die von einer Volkspartei angesprochenen Wählerschichten angeht. Eine Volkspartei vertritt also nicht nur eine bestimmte Interessengruppe (z.B. Arbeiter oder Selbstständige), sondern richtet ihre politische Programmatik bewusst auf möglichst breite Bevölkerungsschichten aus. Das bedeutet nicht, dass sie in allen Gruppen gleich stark ist – vielmehr haben auch Volksparteien oft einen gewissen Schwerpunkt in der Wählerschaft. So etwa einst die SPD bei Arbeiterinnen und Arbeitern oder die CDU/CSU bei katholisch geprägten Menschen und Selbstständigen.

Die erste Volkspartei der deutschen Geschichte – und zugleich die einzige vor 1945 – war (leider) die NSDAP. Gestartet 1919/20 als Münchener Lokalpartei, fasste sie ab 1925 im ganzen Deutschen Reich Fuß und erreichte ab Ende der 1920er Jahre diverse Wählerschichten: Arbeiter und Unternehmer, Beschäftigte wie Selbstständige, Junge und Alte, Männer und Frauen, Nord‑, Süd-, Ost- wie Westdeutsche, Handwerker und Landwirte, Städter wie Landbevölkerung. Jürgen Falter bezeichnet sie daher zu Recht als „Volkspartei des Protests“, weil die NSDAP als „Anti-Alles-Partei“ vor allem im Zuge der Weltwirtschaftskrise ab 1929 die Wut verschiedenster Schichten gegen „das System“ anfachte und verstärkte: Hass auf Juden, auf demokratische Politiker, auf die Demokratie insgesamt, auf das Parlament, auf den Liberalismus, auf den Versailler Vertrag und so weiter.

Nach 1945 war es ironischerweise erneut ein „Anti-Konsens“, der Union und SPD langfristig stark machte, nämlich der im Kern antiideologische Konsens, Faschismus wie Kommunismus gleichermaßen abzulehnen und keine politischen Experimente zu wagen. Aus dieser Anti-Haltung wurde mit der Zeit eine positivere Ausrichtung: pro Bonner Republik, pro Westintegration, pro Sozialstaat, pro „Wohlstand für alle“. Diese Ausrichtung ermöglichte es Union und SPD, von Ende der 1950er Jahre bis Ende der 1990er Jahre Deutschland politisch zu dominieren (siehe unten).

Klare Aussage: Konrad Adenauer (CDU) im Jahr 1957
Quelle: Archiv für Christlich-Demokratische Politik | CC BY-SA 3.0 | Keine Änderungen vorgenommen

Schwieriger ist die Frage, ob es eines bestimmten Stimmenanteils braucht, um eine Partei mit dem Begriff „Volkspartei“ zu adeln. Herkömmlicherweise wurden in der Bundesrepublik meist Werte von um die 25 bis 30 Prozent angegeben, die eine Partei regelmäßig bei Landtags- und Bundestagswahlen schon erreichen sollte, um als Volkspartei gelten zu können. Doch dieser Wert ist natürlich nicht in Stein gemeißelt, sondern ein letztlich willkürlich gewählter Wert, der vor allem eine praktisch-heuristische Funktion hat. Nicht zuletzt deshalb sehe ich solche Zahlenwerte kritisch. Ich halte die soeben beschriebene qualitative Definition für entscheidend. Eine Volkspartei kann demnach auch eine Partei sein, die nur 10 Prozent der Stimmen, diese aber diversen Schichten erringt, während eine Partei mit 25 % nicht zwangsläufig eine schichtenübergreifende Volkspartei sein muss. Nachdem wir also die Arbeitsdefinition geklärt haben, kommen wir nun zu den aktuellen Nöten der Volksparteien.

2. Warum schwächeln die Volksparteien?

Zunächst eine Klarstellung: Um den Text nicht ausufern zu lassen, beschränke ich mich im Folgenden auf die deutsche Parteienlandschaft. Das „Sterben“ der Volksparteien lässt sich zwar auch anderswo beobachten, aber ich möchte mich bewusst auf die deutsche Lage konzentrieren.

Allgemein lässt sich beobachten, dass die beiden deutschen Volksparteien, Union und SPD, seit Ende der 1970er Jahre tendenziell Stimmen verlieren. Dieser Prozess verlief zunächst langsam: Die höchste „Wählerkonzentration“ erreichten die beiden Parteien bei der Bundestagswahl 1976. Damals erreichten sie zusammen 91,2 Prozent. Bei den Wahlen der 1980er Jahre erreichten sie zusammen noch stets mehr als 80 Prozent, in den 1990ern 76 bis 78 Prozent. Im Jahr 2005 rutschten sie erstmals unter die 70-Prozent-Marke, 2009 wählten dann nur noch knapp 57 Prozent Union oder SPD. Ein kurzes Zwischenhoch 2013 konnte nicht verhindern, dass es 2017 dann schließlich nur noch 53,4 Prozent waren. Zugleich traten immer mehr neue Parteien hinzu, die SPD und Union Wählerstimmen abspenstig machten: In den 1980er Jahren die Grünen, in den 1990er/2000er Jahren die PDS (später Die Linke) und ab 2013 dann die AfD. Als Grund für diese Schwäche der Volksparteien vor allem seit 2009 werden mehrere Gründe genannt, wobei neben tagesspezifischen Gründen wie „falsche/-r Spitzenkandidat/-in“, „mieser Wahlkampf“ oder „Affäre XYZ“ und dem Effekt der Großen Koalitionen hier vor allem die strukturellen Gründe interessieren.

Goldene Zeiten für die Roten: Günter Grass und Willy Brandt (SPD) im Jahr 1972. Der Schriftseller Grass unterstützte lange Zeit aktiv die SPD und verhalf ihr so zu mehr Reputation in bürgerlichen Schichten
Quelle: Gemeinfrei

Diese Gründe wurden oft beschrieben: So lösten sich die festen Milieustrukturen wie die Arbeiterschaft oder die Kirchgängerschaft weitgehend auf, was die Bindung großer Wählergruppen an Union oder SPD schmälerte. Zudem wandelte sich die Medienwelt enorm; ein Faktor, den man nicht unterschätzen darf: Das „Lagerfeuer“ der öffentlich-rechtlichen Programme, die von Menschen aller Gruppen gemeinsam angeschaut wurden, wurden zunächst vom Privatfernsehen, später vom medialen Angebot im Internet und Streamingdiensten wie Netflix verdrängt, sodass heute jede und jeder sein oder ihr eigenes Programm schaut, was zu einer Aufsplitterung der Wahrnehmung beigetragen haben dürfte.

Hinzu kommt, dass die Volksparteien-Apparate, insbesondere die Parlamentsfraktionen, heute nahezu komplett „durchakademisiert“ sind. In der Bundestagsfraktion der ehemaligen „Arbeiterpartei“ SPD etwa gibt es derzeit nur noch sehr wenige Arbeiter. Zu viele Berufsgruppen, neben den Arbeitern etwa Handwerker und die Gesundheitsberufe (Krankenschwester und Co.) sind im Bundestag massiv unterrepräsentiert. Dass viele politische Führungspersonen von Union und SPD (aber natürlich auch der anderen Parteien) nicht erst seit der Corona-Krise von vielen Menschen als teilweise inkompetent und arrogant wahrgenommen werden, tut sein Übriges. Selbiges gilt für die Tatsache, dass Union und SPD der Mut zu den dringend nötigen politischen Großreformen bei Wahlsystem, Rente, Gesundheit und Steuern – um nur einige wenige Bereiche zu nennen – lange gefehlt hat. Doch wenn diese Volksparteien tatsächlich abdanken sollten, was tritt dann an ihre Stelle?

3. Was tritt an die Stelle der alten Volksparteien?

Man könnte vermuten, dass das Ende der Volksparteien bedeute, dass in Deutschland künftig nur noch Kleinparteien um die Macht ringen. Tatsächlich geschieht gerade aber etwas anderes. So erleben wir in Deutschland gerade den Aufstieg der neuen Mittelparteien: Die Großen schrumpfen auf Mittelmaß, die Kleinen wachsen zu Mittelmaß. Aber sind die Mittelparteien wirklich so neu? Nun, dieser Artikel heißt nicht umsonst „Weimar reloaded? Über die neuen, alten Mittelparteien“. Nein, ich setze gewiss die aktuellen Entwicklungen nicht mit der Weimarer Republik gleich. Aber bei einem offenen historischen Vergleich fällt auf, dass auch die Weimarer Republik bis 1932 von Mittelparteien geprägt war. Was ist also das Charakteristikum einer Mittelpartei?

Am Weimarer Beispiel lässt sich dies gut verdeutlichen: Die SPD, die Zentrumpartei, die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) und die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) erreichten bei den meisten Wahlen jeweils zwischen zwölf und 25 Prozent, mit nur wenigen Ausschlägen nach oben oder unten. Jede dieser Parteien hatte eine Kerngruppe an Wählerinnen und Wählern und griff dabei auf benachbarte Schichten aus, ohne jedoch das ganze Volk anzusprechen. Die SPD etwa hatte ihre Hochburgen unter den gewerkschaftsgebundenen Facharbeitern, wurde jedoch auch von Studentinnen oder Jungakademikern gewählt. Für Selbstständige, Landwirte oder den Mittelstand blieb die Partei aber ein rotes Tuch, anders als in der späteren Bundesrepublik.

Heute erleben wir Ähnliches: Die drei Kernmerkmale der neuen Mittelparteien, also der Union, SPD, FDP, AfD und Grünen (die Linke bleibt derzeit außen vor), sind erstens die Konzentration auf eine Kerngruppe an Wählerinnen und Wählern, zweitens das Ausgreifen auf benachbarte Milieus und drittens der trotzdem fehlende Anspruch (beziehungswiese im Falle von SPD und Union die derzeit fehlenden Möglichkeiten zur Umsetzung dieses Anspruchs), sich gleichermaßen an alle Wählenden zu richten.

Anhand des Beispiels der Grünen wird deutlich, wie so etwas heute aussieht: Die Grünen haben erstens ihre Kernwählerschaft unter den akademisch ausgebildeten, im Dienstleistungssektor arbeitenden Leuten in den Groß- und Universitätsstädten des Westens. Hier erreichen sie teils Traumwerte von über 40 % der Stimmen. Zweitens greifen die Grünen in andere Bereiche aus: In den Städten wählen nun etwa vermehrt auch Arbeiter oder Altenpflegerinnen die Grünen, wenn auch nicht mit so großen Anteilen wie bei den Akademikern. Eine Volkspartei sind die Grünen aber trotzdem nicht, weil sie drittens im Osten, auf dem Land und bei ländlich wohnenden Nichtakademikern oft „unter ferner liefen“ laufen. Tatsächlich wollen die Grünen auch gar keine Volkspartei sein: Jürgen Trittin äußerte sich jüngst genau so, Robert Habeck hat bereits Ende 2018 dem Modell Volkspartei insgesamt eine Absage erteilt, da es die Lebensrealität der Leute nicht mehr widerspiegele (Spiegel vom 29.12.2018).

Robert Habeck (Grüne) im Jahr 2018 am Rande einer Talkshow-Aufzeichnung der ARD
Quelle: Raimond Spekking | CC BY-SA 4.0 | Keine Änderungen vorgenommen

Beim exakten Gegenteil der Grünen, der AfD, sieht es ähnlich aus: Ihre Kernwählerschaft besteht aus überwiegend ländlichen und ostdeutschen Wählermilieus, die mit der ökonomischen und/oder kulturellen Gesamtsituation unzufrieden sind. Ob Euro, EU, Migration, Corona-Maßnahmen, Globalisierung, selbstbewusste Frauen oder die Rechte von Minderheiten: Dem typischen AfD-Wähler wird es langsam zu viel mit der modernen Zeit. Doch auch manche gutverdienenden Unternehmer, strengchristliche Gruppen oder alte Rechtsextreme wählen die AfD. Wohingegen die Partei bei Frauen (vor allem bei den jungen und akademisch gebildeten), in den Städten und bei Angehörigen diverser Minderheiten wenig überraschend extrem schlecht abschneidet.

Fazit

Das deutsche Parteiensystem wandelt sich derzeit fundamental. Bisher bestand es aus zwei großen Volks- und mehreren Kleinparteien. Nun mutiert es zu einem System, in dem es vier bis fünf Mittelparteien geben dürfte, ergänzt durch einige kleinere Parteien wie Die Linke oder eventuell auch die Freien Wähler. Koalitionsverhandlungen und die Regierungsbildung werden dadurch erschwert, da mehr und eher gleichstarke Partner miteinander verhandeln müssen. Schon die Verhandlungen von 2017 haben dies gezeigt. Für die Demokratie muss dies aber nichts Schlechtes bedeuten, da Mehrparteienregierungen nicht automatisch größere politische Instabilität bedeuten.

Tatsächlich zeigen gerade die Beispiele USA und Großbritannien, dass oft die Zweiparteiensysteme diejenigen mit den polarisiertesten Gesellschaften sind. Für die nächsten Wahlen bedeutet dies zugleich: Taktisch zu wählen ist (nicht nur aufgrund unseres Wahlrechts) eine schlechte Idee. Denn die alten Verbindungen wie Rot-Grün oder Schwarz-Gelb sind weitgehend Geschichte. Nach aktuellem Stand sind nach der nächsten Bundestagswahl ein halbes Dutzend Koalitionsoptionen denkbar. Wer also aus taktischen Gründen eine bestimmte Partei wählt, könnte mit einer Regierung aufwachen, die er gerade verhindern wollte. Stattdessen sollten jede Wählerin und jeder Wähler diejenige Partei wählen, die ihm oder ihr programmatisch am nächsten ist.

Fest steht: In der deutschen Politik tut sich so viel wie schon lange nicht mehr. Die Bundestagswahlen 2021 werden ein Meilenstein sein auf dem Weg zu einem neuen deutschen Parteiensystem, mit dem die alte Bundesrepublik endgültig begraben wird. Ob die alten Volksparteien ihren früheren Status als ebensolche wiedererlangen oder neue Volksparteien auftauchen werden, ist dabei offen. Es bleibt also spannend.

Was der Sieg von Biden und Harris bedeuten kann

Eine überzeugende Wahl

Nun steht es also fest: Vier lange Tage hatte es gedauert, genug Stimmen auszuzählen, um herauszufinden, wer die US-Präsidentschaftswahlen von 2020 gewonnen hat. Die Sieger, Joe Biden und Kamala Harris, haben sich am Ende deutlich durchgesetzt. Der Sieg fiel dabei alles andere als knapp aus, was zunächst durch die lange Auszählung und die vorübergehende Führung Donald Trumps in wichtigen Bundesstaaten verdeckt wurde. Bereits jetzt haben Biden und Harris rund 5,5 Millionen Stimmen mehr als Trump und sein Vize Mike Pence erhalten. Dieser Vorsprung dürfte sich noch weiter vergrößern; eine Zielmarke von sechs bis sieben Millionen Stimmen Abstand dürfte dabei realistisch sein. Auch konnten die Demokraten gleich fünf Staaten (Arizona, Georgia, Michigan, Pennsylvania, Wisconsin) und einen Kongressbezirk in Nebraska erobern. Dass der Herausforderer einen zur Wiederwahl stehenden Amtsinhaber besiegte, ist zudem eine besondere und seltene Leistung, schließlich geschah dies im letzten Jahrhundert überhaupt nur fünf Mal: 1912, 1932, 1976, 1980 und 1992. Historisch ist die Wahl dabei gleich aus zwei Gründen: Zum einen bedeutet der Sieg von Kamala Harris, dass zum ersten Mal eine Frau und zudem zum ersten Mal eine nichtweiße Amerikanerin das Amt der Vizepräsidentin ausfüllt. Zum anderen haben Biden und Harris so viele Stimmen geholt wie kein Kandidatenteam zuvor in der US-Geschichte, nämlich mehr als 80 Millionen. Wobei man hier hinzufügen sollte, dass auch Trump mehr Stimmen geholt hat als 2016 und sogar mehr als Barack Obama im Jahr 2008. Seine mehr als 75 Millionen Stimmen sprechen daher eine deutliche Sprache: Der Trumpismus ist nicht nicht tot und wird die republikanische Partei noch lange beschäftigen.

Wahlanalyse – Und was sich aus 2020 für die Zukunft ableiten lässt

Mit 306 zu 232 Stimmen im Electoral College haben Biden und Harris kurioserweise mit genau demselben Abstand gewonnen, mit dem Trump 2016 Hillary Clinton schlug. Für die Demokraten dabei besonders wichtig: Sie haben ihre blaue Mauer, den mittlerweile berühmten „Blue Wall“, wiedererrichtet: Wisconsin, Michigan und Pennsylvania und dazu die (für die Demokraten eher sicheren) Staaten Virginia, Minnesota und New Hampshire bilden einen Block, gegen den man in den USA nur schwerlich Präsident werden kann. Die Siege in den drei erstgenannten Staaten – insbesondere der deutliche Sieg in Michigan – können dabei aber nicht überdecken, dass die Demokraten auch künftig vermehrt um diese Staaten werden kämpfen müssen. Die überwiegend weißen Arbeiter und Arbeiterinnen im „Rust Belt“ wählen schon länger nicht mehr automatisch demokratisch und sind überdies für identitätspolitische und kulturelle Angebote von rechts offen. Das hat Trumps Erfolg dort im Jahr 2016 eindrucksvoll belegt. Zudem zeigt sich erneut, dass die Verschiebungen in den Swing States – und vor allem: welche Staaten überhaupt als solche gelten dürfen – nicht nur den Demokraten nützen.

Licht und Schatten für beide Parteien

So haben sich zwar Colorado, Virginia, New Mexiko, New Hampshire und Nevada zunehmend zu Hochburgen der Demokraten entwickelt. Gleichzeitig wird es für sie jedoch immer schwerer, Ohio, Iowa oder Florida zu erobern. Die dortigen demographischen, kulturellen und politischen Veränderungen lassen diese drei Staaten zunehmend ins Lager der Republikaner überlaufen. Im ländlichen Iowa und in der Industriebrache Ohio ist es der Verdruss über die kosmopolitische, sich vermeintlich oder tatsächlich vor allem um Minderheitenrechte scherende Demokraten-Elite an den Küsten, der den Republikanern hilft. In Florida wiederum siedeln sich bevorzugt (weiße) Ruheständler an, um dort in der Sonne ihren Lebensabend zu verbringen. Ältere Weiße sind aber eine der Kernwählergruppen der Republikaner. Auch wählen die dortigen Latinos aufgrund ihrer überwiegend kubanischen Herkunft, die sie geradezu allergisch für jedwede Form von „Sozialismus“ werden lässt, meist konservativ (dies gilt selbst dann, wenn dieser „Sozialismus“ nur darin besteht, erkrankte Menschen nicht einfach sterben zu lassen, sondern ihnen eine günstige staatliche Krankenversicherung anzubieten).

Hoffnung kann den Demokraten aber machen, dass Sie Arizona und Georgia erobern konnten und spätestens 2024 oder 2028 realistische Chancen haben werden, sogar Texas blau zu färben. In Georgia war diesmal, nach allem was bisher bekannt ist, vor allem die große Mobilisierung unter der schwarzen Einwohnerschaft bedeutsam. In Arizona und Texas sind es hingegen die massiven demografischen Veränderungen, sprich: Der Zuzug von sozialpolitisch eher links orientierten Latinos aus Südamerika und deren höhere Geburtenrate, die beide Staaten immer weiter zu den Demokraten treiben. Die hier skizzierten Veränderungen bedeuten also für beide Parteien Licht und Schatten und werden dafür sorgen, dass auch künftig beide Parteien Chancen auf US-weite Wahlsiege haben. Der Traum der Demokraten von „demographic eternity“, also einer schleichenden Monopolisierung der politischen Macht in den USA als Folge wachsender Bevölkerungsanteile von Latinos, Asiaten und Schwarzen, dürfte sich hingegen bis auf Weiteres als Luftnummer erweisen.

Gerade deshalb wird es für die Demokraten auch in Zukunft darauf ankommen – und Joe Biden hat dies vorgemacht –, sich nicht nur auf Schwarze, Latinos und andere Minderheiten zu verlassen. Denn, so hart dies auch sein kann: In einer Demokratie entscheidet nun einmal die Mehrheit. Und die ist in den USA immer noch weiß. Und ja, der Bevölkerungsanteil der Weißen nimmt in den USA ab. Aber eben nur langsam, und selbst wenn irgendwann die Weißen nicht mehr als 50 % der Wählenden stellen sollten, werden sie bis auf absehbare Zeit zumindest die relativ größte Gruppe stellen. Für die Demokraten ist es also entscheidend, neben rund 90 % der Schwarzen und rund 66 % der Asiaten und Latinos auch künftig mindestens rund 40 % der Weißen für sich zu gewinnen. Joe Biden ist dies offenbar gelungen, Hillary Clinton scheiterte daran.

Was der Sieg von Biden und Harris für die US-Außenpolitik bedeutet

US-amerikanische Innenpolitik ist eine interessante Angelegenheit, für uns in Europa ist aber wichtiger, wie sich die US-Außenpolitik künftig entwickeln wird. Zugegeben, beides ist eng miteinander verknüpft. Trotzdem ist es legitim, in einem kurzen Blogbeitrag sich einmal nur auf die Außenpolitik zu konzentrieren. Dabei sei zunächst angemerkt, dass die Frage nach der künftigen Mehrheit im US-Senat bedeutsam ist. Anders als das mehrheitlich demokratische Repräsentantenhaus hat der Senat nämlich erheblichen Einfluss auf die Außenpolitik und muss etwa völkerrechtliche Verträge ratifizieren. Die Demokraten haben hier nicht so viele Sitze hinzugewonnen wie erhofft, haben aber die Chance, im Januar in Georgia noch zwei Sitze in Stichwahlen hinzuzugewinnen. Dann stünde es im Senat 50:50 und bei einem Patt wäre die Stimme der neuen Vizepräsidentin Kamala Harris entscheidend.

            1. Klimapolitik

Joe Biden hat versprochen, am ersten Tag seiner Amtszeit die USA in das Pariser Klimaabkommen zurückzubringen. Dies ist jedoch nur der erste Schritt hin zu einer echten US-amerikanischen Klimapolitik, die diesen Namen auch verdient. Biden weiß das, weswegen er unter anderem die CO2-Neutralität der US-Stromproduktion bis 2035 anpeilt, ebenso wie die Förderung von emissionsarmen Formen des ÖPNV.

            2. NATO und Sicherheitspolitik

Donald Trump war die größte Gefahr für den Bestand der NATO seit dem Zerfall der Sowjetunion. Er drohte unverhohlen mit einem Austritt der USA und bezichtigte die Verbündeten, zu wenig Geld ins Militär zu stecken. Mit Joe Biden sind alle US-Ausstiegsdrohungen hinfällig geworden. Was aber bleiben wird, ist die alte US-amerikanische Forderung nach höheren europäischen Verteidigungsausgaben. Diese Forderung ist dabei nicht neu, wie diese Rede der damaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher vor dem US-Kongress aus dem Jahr 1985 eindrucksvoll zeigt (im Video ab Minute 23:00). Zudem teilen andere NATO-Staaten wie Großbritannien, Polen und die baltischen Länder diese Kritik. Und tatsächlich haben Deutschland und andere Staaten ihr Militärbudget bereits kräftig erhöht, um diversen Sicherheitsgefahren besser begegnen zu können. Langfristig stellen sich aber vor allem zwei Fragen an die NATO: Erstens, wie verhält sich die Allianz gegenüber China und soll sie, anders als ihr Name impliziert, auch im Pazifik eine Rolle spielen? Und zweitens, wie wird sich die wachsende Forderung nach einer europäischen Armee mit der NATO vertragen? Angela Merkel und andere fordern, eine EU-Armee solle innerhalb der NATO „gemeinsam auftreten“ (im Video ab Minute 17:40). Wie genau dies gestaltet werden könnte, wird aber noch eine große Denksportaufgabe.

            3. Außenhandel

Hier sollte man sich nicht täuschen: Die Wahrnehmung, Amerikas Industrie müsse gegen ausländische Importe abgeschottet werden, ist aufseiten der Demokraten schon lange genauso verbreitet wie bei den Republikanern. Auch Biden nutzt Schlagworte wie „Buy American“ oder „Make it in America“. Er wird insbesondere den von Trump verschärften Kurs gegenüber China fortsetzen. Für die US-EU-Beziehungen im Handel dürfte indes eine leichtere Zeit anbrechen, und sei es nur aufgrund des neuen Tonfalls. Schon unter Trump war der Handelsstreit der USA mit der EU nicht so heftig wie der mit China. Biden dürfte einen Teil der von Trump verhängten  US-Zölle auf EU-Güter bald abräumen, insofern die EU nachzieht und ihre Strafzölle auf US-Produkte einstellt. Trotzdem dürften die Zeiten des deutschen Exportbooms in die USA nicht nur wegen Corona vorbei sein. Ob sich die USA mit ihrer neuen Abschottungspolitik allerdings einen Gefallen tun oder sich in erster Linie die Konsumentenpreise erhöhen werden, steht in den Sternen.

Fazit

Man kann den USA zu ihrem neuen Präsidenten nur gratulieren. Joe Biden gilt als emphatisch, rücksichtsvoll und kompromissbereit. Er hat in seinem Leben wahrlich schwere Schicksalsschläge zu verkraften gehabt, was ihn sensibilisiert hat für die Sorgen und Nöte all derjenigen, die nicht mit dem sprichwörtlichen „Silbernen Löffel“ im Mund aufgewachsen sind oder aus anderen Gründen finanzielle, gesundheitliche oder soziale Probleme haben. Zugleich bleibt die teilweise scharfe Polarisierung des Landes bestehen und die Republikaner bleiben klar auf Rechtspopulismus-Kurs. Für die neue US-Regierung wird es daher schwer, ihr Volk wieder zusammenzuführen. Der Kampf gegen das grassierende Coronavirus, das aufstrebende China und die lahmende Wirtschaft werden von Anfang an alle Kräfte binden – der Erfolg ist dabei nicht garantiert. Für Deutschland und die EU bedeutet dies, trotz der berechtigten Erwartungen an eine Wiederannäherung an die USA und nicht zuletzt auch aufgrund unserer eigenen zahlreichen Probleme den eingeschlagenen Weg zu größerer außenpolitischer Souveränität weiterzugehen. Eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die Vollendung des Binnenmarktes und die Schaffung einer gemeinsamen Europäischen Armee müssen daher ganz oben auf der Tagesordnung stehen, unabhängig davon, wer im Weißen Haus regiert.

Zum deutschen Wahlrecht – warum wir eine große Reform brauchen

Mit der sich abzeichnenden erneuten Pleite in Sachen Bundestagswahlrecht haben die Parteien CDU, CSU und SPD dem Ansehen des Bundestages und der Demokratie beim Thema Wahlrecht einmal mehr erheblichen Schaden zugefügt. Allen drei Parteien ging es mit ihren kaum ernst gemeinten „Kompromissvorschlägen“ der letzten Monate erkennbar nicht darum, ein neues, ausgeglichenes und faires Wahlrecht zu schaffen, sondern ausschließlich um ihren eigenen parteipolitischen Vorteil. So wird es nun vermutlich nicht einmal gelingen, wenigstens für die nächste Bundestagswahl vorübergehend ein neues Wahlrecht zu verabschieden, welches später dann grundlegender hätte verändert werden können. Somit bleibt es beim aktuell gültigen Wahlrecht, das wahrscheinlich schon bei der nächsten Wahl 2021 für eine Aufblähung des Bundestages auf bis zu 800 Sitze oder mehr sorgen wird. Dieser Zustand ist aus drei Gründen auf Dauer unhaltbar:

  • Erstens, weil zu viele Abgeordnete die Arbeitsfähigkeit des Bundestages reduzieren: Je mehr Abgeordnete in Ausschüssen und im Plenum sitzen, desto länger müssen die Redezeiten sein, desto mehr Büroräume (oder Container) werden gebraucht und desto schwieriger wird es, gute zwischenmenschliche Beziehungen zueinander aufzubauen, weil man sich ja auch mit so viel anderen Kolleginnen und Kollegen treffen könnte…
  • Zweitens, weil die zusätzlichen Abgeordneten die Steuerzahler viele Millionen Euro kosten: Diäten, Pauschalen, Reisekosten, Büros, Mitarbeiter usw. Jeder Abgeordnete kostet rund eine halbe Million Euro jährlich (Datengrundlage: Bund der Steuerzahler, eigene Berechnung). Ein Parlament mit 800 statt der vorgesehen rund 600 Abgeordneten würde uns also die stattliche Summe von von 100 Millionen Euro jedes Jahr zusätzlich kosten!
  • Drittens, und dies ist das wichtigste: Auch aus den beiden bereits genannten Gründen sehen viele Leute (der Verfasser dieser Zeilen eingeschlossen) das Scheitern der Wahlrechtsreform sowie den Bläh-Bundestag sehr kritisch. Bedauerlicherweise gibt nun die ganze Problematik den zahlreichen Extremisten, Demokratie-Feinden und anderen finsteren Zeitgenossen die ideale Gelegenheit, kräftig gegen das Parlament, die Parteien und die Demokratie insgesamt zu hetzen. Da ihre Angriffe aber durch das Scheitern der Reform auf einem wahren Kern beruhen – und dies ist immer schon die gefährlichste Art des pauschalisierenden Angriffes gewesen! – werden ihre Tiraden auf fruchtbaren Boden fallen und von genug Mitbürgerinnen und Mitbürgern aufgenommen werden. Für den schon seit vielen Jahren um seine Reputation kämpfenden Bundestag ist dies die denkbar schlechteste Entwicklung.

Doch wie könnten wir aus der Misere kommen? Zunächst ein paar Worte zum Status quo:

Das aktuelle Wahlrecht

Seit langer Zeit haben die Wählerinnen und Wähler bei Bundestagswahlen zwei Stimmen: Zum einen eine Erststimme, mit der sie eine Person auf dem Wahlzettel „direkt“ für den jeweiligen Wahlkreis in den Bundestag wählen. Derjenige Kandidat, der die meisten Stimmen in einem Wahlkreis auf sich vereint, erhält auf jeden Fall einen Sitz im Bundestag – egal, ob er zu einer Partei gehört und wenn ja, zu welcher. Auch sein oder ihr Stimmenvorsprung ist irrelevant. Ob man also mit 55 Prozent der Stimmen oder 25 Prozent der Stimmen gewählt wird, ist nicht entscheidend. Mit der Zweitstimme wählen die Wähler die Landesliste einer Partei. Erhält die Partei mehr als fünf Prozent der deutschlandweit abgegeben Stimmen, ziehen ihre Kandidaten in der Reihenfolge ihrer Listenplatzierung ins Parlament ein. Dabei werden jedoch die zuvor direkt gewählten Abgeordneten abgezogen. Erringt eine Partei also durch ihren Zweitstimmenanteil 60 Sitze und wurden bereits 43 ihrer Kandidaten direkt gewählt, ziehen nur noch 17 zusätzliche Listenbewerber ins Parlament ein. Und hier beginnen die Probleme.

Denn eine Partei kann mehr Direktmandate erringen als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis eigentlich zustünden. Die „überschüssigen“ Mandate nennt man „Überhangmandate“. Bei der letzten Bundestagswahl errangen etwa die CDU 36, die CSU sieben und die SPD drei Überhangmandate. Um nun aber das „eigentliche“ Wahlergebnis der Zweitstimmen nicht zu verfälschen, gibt es seit 2013 Ausgleichsmandate für diejenigen Parteien, die keine solchen Überhangmandate erhielten. Eigentlich eine gute, sinnvolle Sache. Denn die Zweitstimmen bilden wesentlich besser den Wählerwillen ab als die Erststimme, bei der ja alle Stimmen der unterlegenen Kandidaten unter den Tisch fallen. Das Problem: Um neben dem Mandatsverhältnis zwischen den Parteien auch jenes zwischen den Bundesländern zu erhalten, müssen zusätzlich weitere Ausgleichsmandate vergeben werden, um nicht den lustigen Föderalismus-Proporz aufzuweichen. Im Klartext: Es kann sein, dass wegen eines CSU-Überhangmandats in Bayern zunächst die SPD in Nordrhein-Westfalen ein Ausgleichsmandat bekommt. Weil nun aber Bayern und NRW übermäßig im Bundestag vertreten sind, gibt es nun noch ein Mandat für die FDP in Hessen. Weil nun aber die FDP zu stark vertreten ist, brauchen die Grünen in Hamburg und die AfD in Sachsen auch noch ein Mandat. Und immer so weiter, bis sich eine regelrechte Kaskade aus Überhangs- und Ausgleichsmandaten entwickelt.

Dieser Irrsinn hat dazu geführt, dass bei der Bundestagswahl 2013 gerade einmal vier Überhangmandate, alle für die CDU, ganze 29 (!) Ausgleichsmandate nach sich zogen. Am Ende bekam die CDU für ihre eigenen vier Überhangmandate auch noch 13 Ausgleichsmandate – weil ja sonst alle Bundesländer ohne Überhangmandate benachteiligt gewesen wären! Doch trotz dieser offensichtlichen Idiotie sind alle heutigen Reformvorschläge geplatzt: Eine Verringerung der Wahlkreise wird vor allem von CSU und SPD abgelehnt, ein Beschneiden der Ausgleichsmandate von den kleineren Parteien. Vermutlich wollen alle Beteiligten einfach nicht riskieren, ihre eigenen Mandate oder die ihrer Parteikollegen dadurch zu verlieren, dass der Bundestag durch eine Reform am Ende wirklich spürbar kleiner wird. Was es also braucht, ist eine echte, radikale Reform, die das Problem an der Wurzel packt.

Mein Reformvorschlag

Ich gebe zu: Was folgt, ist ziemlich radikal. Und ungewöhnlich. Aber meine Auffassung ist es, dass wir in der vertrackten Lage, in der wir uns befinden, dringend innovative und dauerhafte Lösungen brauchen. Zugleich ist mein Vorschlag, den ich außerhalb dieses Blogs schon seit Längerem in Diskussionen vertrete, auch eine Chance, unser Wahlrecht grundsätzlich zu entschlacken und demokratischer zu machen. Mein Vorschlag ist dabei zwar wie gesagt radikal, aber simpel. Er besteht aus drei Komponenten:

  • 1.) Abschaffung der Wahlkreise
  • 2.) Öffnung der Landeslisten
  • 3.) Einführung eines Familienwahlrechts

Damit verfolge ich wiederum drei Ziele:

  • 1.) Demokratisierung des Wahlrechts
  • 2.) Vereinfachung des Wahlrechts
  • 3.) Erhaltung der Arbeitsfähigkeit des Bundestages

Doch wie genau tragen nun die drei Komponenten meiner Reformidee zur Erreichung der drei Ziele bei?

1.) Die Abschaffung der Wahlkreise

Konkret soll folgendes passieren: Die Wahlkreise werden abgeschafft. Die häufig gehörte Begründung für ihre angebliche Wichtigkeit lautet, die Wählerinnen und Wähler würden sich mit ihrem direkt gewählten Abgeordneten identifizieren. Doch dies ist durch Studien hinreichend widerlegt. Tatsächlich kennt die Mehrheit der Bürger ihre regionalen Abgeordneten nicht. Einer Studie der Landeszentrale für politische Bildung aus NRW zufolge (siehe hier, Seite 22) kannten nur 46 Prozent der Befragten ihre Bundes- und Landtagsabgeordneten. Und dies dürfte, wie auch die Autorinnen und Autoren der Studie nahelegen, noch zu hoch gegriffen sein. Realistisch scheinen eher 30-35 Prozent zu sein. Dies ist auch einer der zwei Gründe, weswegen das ebenso radikale Gegenmodell zu meinem Vorschlag, nämlich eine Abschaffung der Listen zugunsten der Wahlkreise, nicht zielführend ist. Der andere Grund ist, dass in einem solchen System selbst fähige Kandidatinnen und Kandidaten keine Chance auf Einzug in den Bundestag hätten, wenn sie schlicht im „falschen“ Wahlkreis leben (als Grüner in Cloppenburg, als CDUler in Berlin-Kreuzberg usw.), in dem ihre Partei traditionell schwach abschneidet und sie so selbst bei einem überdurchschnittlichem Ergebnis nicht zum Zuge kämen.

2.) Offene Landeslisten

Tatsächlich wünschen sich aber viele Bürger eine verstärkte Personalisierung ihrer Wahlmöglichkeiten. Hier kommt die zweite Komponente zum Tragen: Obwohl, siehe oben, viele Menschen ihre regionalen Abgeordneten nicht kennen, sieht dies für Politiker insgesamt schon ganz anders aus. Viele Abgeordnete, auch „Nicht-Promis“, haben in bestimmten Bevölkerungsschichten ihre „Fans“, können von diesen aber im aktuellen Wahlrecht kaum gezielt unterstützt werden. Ein Beispiel: Eine Landwirtin aus Wittmund ist sehr zufrieden mit der agrarpolitischen Sprecherin einer bestimmten Partei und würde diese daher gerne unterstützen. Diese kommt aber aus Lüneburg. Unsere Landwirtin hat daher keine Chance, sie gezielt zu wählen: Auf der Landesliste ihrer Partei steht sie vielleicht weit unten, und Lüneburg ist ein ganz anderer Wahlkreis als Wittmund. Öffnete man nun aber die Landeslisten, könnte auch die Landwirtin aus Wittmund ihre bevorzugte Kandidatin aus Lüneburg unterstützen. Ähnlich wie bei einer Kommunalwahl würde nämlich nun hinter jedem Listenkandidaten ein Kreis gedruckt sein, auf dem die Wählerin ihr Kreuz setzen könnte. Auf diese Weise könnten wir auch die unglückliche Debatte über die Sinnhaftigkeit paritätisch zu besetzender Listen (siehe etwa hier) beenden: Wollen Wählerinnen und Wähler gezielt Frauen unterstützen, wären geöffnete Listen dazu die ideale Lösung. Der Einfachheit halber sollten wir aber auf Kumulieren und Panaschieren (also die Möglichkeit, drei oder mehr Stimmen auf mehrere Kandidaten zu verteilen) verzichten: Dies schaffte nur neues Chaos.

3.) Einführung des Familienwahlrechtes

Um das neue Wahlrecht zu vervollständigen, sollten wir zudem dringend über die Einführung eines Familienwahlrechts nachdenken. Tatsächlich ist das Versprechen des Grundgesetzes auf „allgemeine“ Wahlen (Art. 38, Abs. 1 GG) streng genommen nicht erfüllt worden. Kindern und Jugendlichen bleibt ihre Stimme verwehrt, die ihnen eigentlich zustünde. Natürlich ist klar, dass Babys oder (Klein-)Kinder aus naheliegenden Gründen noch nicht in der Lage sind, ihre Stimmen bei Wahlen selbst abzugeben oder sich auch nur eine fundierte Meinung über politische Zusammenhänge zu bilden. Für ihre Eltern, die die Last zusätzlicher Verantwortung für ihre Kinder zu schultern haben, gilt dies aber nicht. Und auch viele 16- und 17-Jährige, das haben nicht nur die jüngeren Ereignisse rund um die Klimaschutzproteste oder die Uploadfilter-Debatten gezeigt, sind politisch „reif genug“ zum Wählen. Zudem darf man schon mit 17 zur Bundeswehr, und auch anderswo arbeiten gehen (und somit Steuern und Abgaben zahlen) darf man schon als Jugendlicher – während umgekehrt einem 40-Jährigen, der nie gearbeitet hat, das Wahlrecht auch nicht entzogen wird. Das in Stammtischkreisen gelegentlich gehörte Gegenargument, das Wahlrecht solle auf Steuerzahlende beschränkt sein, zieht also schon heute nicht.

Wir sollten daher das aktive Wahlrecht auf 16 Jahre senken. Und, noch wichtiger, den Eltern jüngerer Kinder das Wahlrecht stellvertretend für letztere übertragen. Wie wäre dies zu bewerkstelligen? Relativ einfach ist es bei Alleinerziehenden mit alleinigem Sorgerecht: Hier erhält der Erziehungsberechtigte alle Stimmen für seine oder ihre Kinder. Bei Paaren mit geteiltem Sorgerecht (also im Regelfall) könnte man wie folgt vorgehen: Bei einer „geraden Kinderzahl“, also etwa zwei oder vier Kindern, teilen sich die Sorgeberechtigten die Stimmen auf: Jeder erhält eine weitere Stimme bei zwei Kindern unter 16 Jahren, jeder zwei Stimmen bei vier Kindern usw. Problematischer sind „ungerade Kinderzahlen“ bei geteiltem Sorgerecht. Hat ein Paar etwa drei Kinder, könnte zwar jeder Erziehungsberechtigte zunächst mal eine Stimme zusätzlich erhalten. Die dritte „Kindestimme“ bliebe aber übrig. Aber auch hier liegt eine gute Lösung auf der Hand: Es wird gelost. Hat ein (im Beispiel heterosexuelles) Paar etwa drei Kinder, erhalten Mutter und Vater je eine Stimme zusätzlich. Die dritte Stimme wird bei der Verlosung nun, sagen wir, zunächst dem Vater zugelost. Der erhält bei der nächsten Wahl also zwei Stimmzettel zusätzlich, die Mutter einen. Von da an wird dann immer gewechselt. Bei der übernächsten Wahl hat also die Mutter zwei Stimmen mehr, der Vater nur eine. Dann geht die dritte Zusatzstimme wieder zurück, und wieder hin, bis das Kind das 16. Lebensjahr vollendet hat und selbst wählen darf. Auf diese Weise ist ein faires, generationengerechtes und vor allem wirklich demokratisches Wahlrecht möglich. Denn wer kann heute noch allen Ernstes behaupten, ein kinderloses Doppelverdienerpaar mit hohem Einkommen sollte in unserer Demokratie mehr Stimmen bekommen als eine alleinerziehende Mutter, die die Last der Erziehung dreier Kleinkinder tragen muss und somit nebenbei die solidarische Rentenversicherung am Leben erhält? Ist dies wirklich fair? Eben.

Fazit

Drei Vorschläge, eine Stoßrichtung: Demokratischer, einfacher und die Arbeitsfähigkeit des Parlaments erhaltend soll das neue Wahlrecht sein. Letzteres wird gewährleistet, weil durch die Abschaffung einer der beiden Stimmen und der Wahlkreise das Problem der Überhang- und Ausgleichsmandate an der Wurzel gepackt und somit im Wortsinne radikal (von lat. „radix“ = Wurzel) gelöst wird. Die Zahl der Abgeordneten bleibt daher konstant. Es wird zudem einfacher zugehen, weil die Wählerinnen und Wähler nur noch eine Stimme haben und die Verwirrung über komplizierte Ausgleichsregelungen zwischen Parteien und Bundesländern der Vergangenheit angehören wird. Und schließlich – und dies ist das Wichtigste – kann der von mir unterbreitete Reformvorschlag durch das Familienwahlrecht und die offenen Listen unser Wahlrecht demokratisieren, den Wählerinnen und Wählern mehr Auswahl ermöglichen und endlich das Versprechen der allgemeinen Wahl erfüllen. Ich bin daher der festen Überzeugung, dass die hier erläuterten Maßnahmen der beste Weg sind, unser Wahlrecht grundlegend und dauerhaft zu reformieren. Unsere Demokratie sollte es uns wert sein.