Weimar reloaded? Über die neuen, alten Mittelparteien

Oder: Warum schwächeln die Volksparteien?

Abgesänge auf die guten, alten Volksparteien gibt es zuhauf. Das Ende der Volksparteien wird schon seit einigen Jahren insbesondere in Deutschland derart intensiv besungen, dass man schon fast vom Topos „Aussterben der Volksparteien“ sprechen darf. Für politisch Interessierte stellen sich dabei mehrere Fragen: Was ist überhaupt eine Volkspartei? Warum sind ihre Tage derzeit offenbar gezählt? Und was tritt an ihre Stelle?

1. Was ist eine Volkspartei?

Volksparteien sind nicht nur ein Gegenstand wissenschaftlicher Forschung und tagesaktueller Berichterstattung, sondern mindestens so sehr ein Mythos. Wobei der Mythos nicht zuletzt dadurch entstehen konnte, dass es eben keine eindeutige Definition des Begriffes „Volkspartei“ gibt, da sich weder Geschichts- noch Politikwissenschaft auf eine solche haben einigen können. In die wissenschaftliche Diskussion eingeführt wurde der Begriff 1965 von Otto Kirchheimer mit seinem Artikel „Der Wandel des westdeutschen Parteisystems“, in dem er allerdings von „Catch-All-Parties“ sprach. Die Übersetzung dieses Begriffes mit „Volkspartei“ ist auch aufgrund seiner normativen Konnotation nicht unumstritten (siehe etwa hier, Seite 5), hat sich allerdings durchgesetzt. Die Bundeszentrale für politische Bildung schreibt heute, eine Volkspartei sei ein „Typ einer politischen Partei, die mit ihrem Programm nicht nur begrenzte Interessengruppen anspricht und deshalb Anhänger und Wähler in allen Bevölkerungsschichten hat“.

Diese Definition kann gut als Minimalkonsens gelten, was die von einer Volkspartei angesprochenen Wählerschichten angeht. Eine Volkspartei vertritt also nicht nur eine bestimmte Interessengruppe (z.B. Arbeiter oder Selbstständige), sondern richtet ihre politische Programmatik bewusst auf möglichst breite Bevölkerungsschichten aus. Das bedeutet nicht, dass sie in allen Gruppen gleich stark ist – vielmehr haben auch Volksparteien oft einen gewissen Schwerpunkt in der Wählerschaft. So etwa einst die SPD bei Arbeiterinnen und Arbeitern oder die CDU/CSU bei katholisch geprägten Menschen und Selbstständigen.

Die erste Volkspartei der deutschen Geschichte – und zugleich die einzige vor 1945 – war (leider) die NSDAP. Gestartet 1919/20 als Münchener Lokalpartei, fasste sie ab 1925 im ganzen Deutschen Reich Fuß und erreichte ab Ende der 1920er Jahre diverse Wählerschichten: Arbeiter und Unternehmer, Beschäftigte wie Selbstständige, Junge und Alte, Männer und Frauen, Nord‑, Süd-, Ost- wie Westdeutsche, Handwerker und Landwirte, Städter wie Landbevölkerung. Jürgen Falter bezeichnet sie daher zu Recht als „Volkspartei des Protests“, weil die NSDAP als „Anti-Alles-Partei“ vor allem im Zuge der Weltwirtschaftskrise ab 1929 die Wut verschiedenster Schichten gegen „das System“ anfachte und verstärkte: Hass auf Juden, auf demokratische Politiker, auf die Demokratie insgesamt, auf das Parlament, auf den Liberalismus, auf den Versailler Vertrag und so weiter.

Nach 1945 war es ironischerweise erneut ein „Anti-Konsens“, der Union und SPD langfristig stark machte, nämlich der im Kern antiideologische Konsens, Faschismus wie Kommunismus gleichermaßen abzulehnen und keine politischen Experimente zu wagen. Aus dieser Anti-Haltung wurde mit der Zeit eine positivere Ausrichtung: pro Bonner Republik, pro Westintegration, pro Sozialstaat, pro „Wohlstand für alle“. Diese Ausrichtung ermöglichte es Union und SPD, von Ende der 1950er Jahre bis Ende der 1990er Jahre Deutschland politisch zu dominieren (siehe unten).

Klare Aussage: Konrad Adenauer (CDU) im Jahr 1957
Quelle: Archiv für Christlich-Demokratische Politik | CC BY-SA 3.0 | Keine Änderungen vorgenommen

Schwieriger ist die Frage, ob es eines bestimmten Stimmenanteils braucht, um eine Partei mit dem Begriff „Volkspartei“ zu adeln. Herkömmlicherweise wurden in der Bundesrepublik meist Werte von um die 25 bis 30 Prozent angegeben, die eine Partei regelmäßig bei Landtags- und Bundestagswahlen schon erreichen sollte, um als Volkspartei gelten zu können. Doch dieser Wert ist natürlich nicht in Stein gemeißelt, sondern ein letztlich willkürlich gewählter Wert, der vor allem eine praktisch-heuristische Funktion hat. Nicht zuletzt deshalb sehe ich solche Zahlenwerte kritisch. Ich halte die soeben beschriebene qualitative Definition für entscheidend. Eine Volkspartei kann demnach auch eine Partei sein, die nur 10 Prozent der Stimmen, diese aber diversen Schichten erringt, während eine Partei mit 25 % nicht zwangsläufig eine schichtenübergreifende Volkspartei sein muss. Nachdem wir also die Arbeitsdefinition geklärt haben, kommen wir nun zu den aktuellen Nöten der Volksparteien.

2. Warum schwächeln die Volksparteien?

Zunächst eine Klarstellung: Um den Text nicht ausufern zu lassen, beschränke ich mich im Folgenden auf die deutsche Parteienlandschaft. Das „Sterben“ der Volksparteien lässt sich zwar auch anderswo beobachten, aber ich möchte mich bewusst auf die deutsche Lage konzentrieren.

Allgemein lässt sich beobachten, dass die beiden deutschen Volksparteien, Union und SPD, seit Ende der 1970er Jahre tendenziell Stimmen verlieren. Dieser Prozess verlief zunächst langsam: Die höchste „Wählerkonzentration“ erreichten die beiden Parteien bei der Bundestagswahl 1976. Damals erreichten sie zusammen 91,2 Prozent. Bei den Wahlen der 1980er Jahre erreichten sie zusammen noch stets mehr als 80 Prozent, in den 1990ern 76 bis 78 Prozent. Im Jahr 2005 rutschten sie erstmals unter die 70-Prozent-Marke, 2009 wählten dann nur noch knapp 57 Prozent Union oder SPD. Ein kurzes Zwischenhoch 2013 konnte nicht verhindern, dass es 2017 dann schließlich nur noch 53,4 Prozent waren. Zugleich traten immer mehr neue Parteien hinzu, die SPD und Union Wählerstimmen abspenstig machten: In den 1980er Jahren die Grünen, in den 1990er/2000er Jahren die PDS (später Die Linke) und ab 2013 dann die AfD. Als Grund für diese Schwäche der Volksparteien vor allem seit 2009 werden mehrere Gründe genannt, wobei neben tagesspezifischen Gründen wie „falsche/-r Spitzenkandidat/-in“, „mieser Wahlkampf“ oder „Affäre XYZ“ und dem Effekt der Großen Koalitionen hier vor allem die strukturellen Gründe interessieren.

Goldene Zeiten für die Roten: Günter Grass und Willy Brandt (SPD) im Jahr 1972. Der Schriftseller Grass unterstützte lange Zeit aktiv die SPD und verhalf ihr so zu mehr Reputation in bürgerlichen Schichten
Quelle: Gemeinfrei

Diese Gründe wurden oft beschrieben: So lösten sich die festen Milieustrukturen wie die Arbeiterschaft oder die Kirchgängerschaft weitgehend auf, was die Bindung großer Wählergruppen an Union oder SPD schmälerte. Zudem wandelte sich die Medienwelt enorm; ein Faktor, den man nicht unterschätzen darf: Das „Lagerfeuer“ der öffentlich-rechtlichen Programme, die von Menschen aller Gruppen gemeinsam angeschaut wurden, wurden zunächst vom Privatfernsehen, später vom medialen Angebot im Internet und Streamingdiensten wie Netflix verdrängt, sodass heute jede und jeder sein oder ihr eigenes Programm schaut, was zu einer Aufsplitterung der Wahrnehmung beigetragen haben dürfte.

Hinzu kommt, dass die Volksparteien-Apparate, insbesondere die Parlamentsfraktionen, heute nahezu komplett „durchakademisiert“ sind. In der Bundestagsfraktion der ehemaligen „Arbeiterpartei“ SPD etwa gibt es derzeit nur noch sehr wenige Arbeiter. Zu viele Berufsgruppen, neben den Arbeitern etwa Handwerker und die Gesundheitsberufe (Krankenschwester und Co.) sind im Bundestag massiv unterrepräsentiert. Dass viele politische Führungspersonen von Union und SPD (aber natürlich auch der anderen Parteien) nicht erst seit der Corona-Krise von vielen Menschen als teilweise inkompetent und arrogant wahrgenommen werden, tut sein Übriges. Selbiges gilt für die Tatsache, dass Union und SPD der Mut zu den dringend nötigen politischen Großreformen bei Wahlsystem, Rente, Gesundheit und Steuern – um nur einige wenige Bereiche zu nennen – lange gefehlt hat. Doch wenn diese Volksparteien tatsächlich abdanken sollten, was tritt dann an ihre Stelle?

3. Was tritt an die Stelle der alten Volksparteien?

Man könnte vermuten, dass das Ende der Volksparteien bedeute, dass in Deutschland künftig nur noch Kleinparteien um die Macht ringen. Tatsächlich geschieht gerade aber etwas anderes. So erleben wir in Deutschland gerade den Aufstieg der neuen Mittelparteien: Die Großen schrumpfen auf Mittelmaß, die Kleinen wachsen zu Mittelmaß. Aber sind die Mittelparteien wirklich so neu? Nun, dieser Artikel heißt nicht umsonst „Weimar reloaded? Über die neuen, alten Mittelparteien“. Nein, ich setze gewiss die aktuellen Entwicklungen nicht mit der Weimarer Republik gleich. Aber bei einem offenen historischen Vergleich fällt auf, dass auch die Weimarer Republik bis 1932 von Mittelparteien geprägt war. Was ist also das Charakteristikum einer Mittelpartei?

Am Weimarer Beispiel lässt sich dies gut verdeutlichen: Die SPD, die Zentrumpartei, die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) und die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) erreichten bei den meisten Wahlen jeweils zwischen zwölf und 25 Prozent, mit nur wenigen Ausschlägen nach oben oder unten. Jede dieser Parteien hatte eine Kerngruppe an Wählerinnen und Wählern und griff dabei auf benachbarte Schichten aus, ohne jedoch das ganze Volk anzusprechen. Die SPD etwa hatte ihre Hochburgen unter den gewerkschaftsgebundenen Facharbeitern, wurde jedoch auch von Studentinnen oder Jungakademikern gewählt. Für Selbstständige, Landwirte oder den Mittelstand blieb die Partei aber ein rotes Tuch, anders als in der späteren Bundesrepublik.

Heute erleben wir Ähnliches: Die drei Kernmerkmale der neuen Mittelparteien, also der Union, SPD, FDP, AfD und Grünen (die Linke bleibt derzeit außen vor), sind erstens die Konzentration auf eine Kerngruppe an Wählerinnen und Wählern, zweitens das Ausgreifen auf benachbarte Milieus und drittens der trotzdem fehlende Anspruch (beziehungswiese im Falle von SPD und Union die derzeit fehlenden Möglichkeiten zur Umsetzung dieses Anspruchs), sich gleichermaßen an alle Wählenden zu richten.

Anhand des Beispiels der Grünen wird deutlich, wie so etwas heute aussieht: Die Grünen haben erstens ihre Kernwählerschaft unter den akademisch ausgebildeten, im Dienstleistungssektor arbeitenden Leuten in den Groß- und Universitätsstädten des Westens. Hier erreichen sie teils Traumwerte von über 40 % der Stimmen. Zweitens greifen die Grünen in andere Bereiche aus: In den Städten wählen nun etwa vermehrt auch Arbeiter oder Altenpflegerinnen die Grünen, wenn auch nicht mit so großen Anteilen wie bei den Akademikern. Eine Volkspartei sind die Grünen aber trotzdem nicht, weil sie drittens im Osten, auf dem Land und bei ländlich wohnenden Nichtakademikern oft „unter ferner liefen“ laufen. Tatsächlich wollen die Grünen auch gar keine Volkspartei sein: Jürgen Trittin äußerte sich jüngst genau so, Robert Habeck hat bereits Ende 2018 dem Modell Volkspartei insgesamt eine Absage erteilt, da es die Lebensrealität der Leute nicht mehr widerspiegele (Spiegel vom 29.12.2018).

Robert Habeck (Grüne) im Jahr 2018 am Rande einer Talkshow-Aufzeichnung der ARD
Quelle: Raimond Spekking | CC BY-SA 4.0 | Keine Änderungen vorgenommen

Beim exakten Gegenteil der Grünen, der AfD, sieht es ähnlich aus: Ihre Kernwählerschaft besteht aus überwiegend ländlichen und ostdeutschen Wählermilieus, die mit der ökonomischen und/oder kulturellen Gesamtsituation unzufrieden sind. Ob Euro, EU, Migration, Corona-Maßnahmen, Globalisierung, selbstbewusste Frauen oder die Rechte von Minderheiten: Dem typischen AfD-Wähler wird es langsam zu viel mit der modernen Zeit. Doch auch manche gutverdienenden Unternehmer, strengchristliche Gruppen oder alte Rechtsextreme wählen die AfD. Wohingegen die Partei bei Frauen (vor allem bei den jungen und akademisch gebildeten), in den Städten und bei Angehörigen diverser Minderheiten wenig überraschend extrem schlecht abschneidet.

Fazit

Das deutsche Parteiensystem wandelt sich derzeit fundamental. Bisher bestand es aus zwei großen Volks- und mehreren Kleinparteien. Nun mutiert es zu einem System, in dem es vier bis fünf Mittelparteien geben dürfte, ergänzt durch einige kleinere Parteien wie Die Linke oder eventuell auch die Freien Wähler. Koalitionsverhandlungen und die Regierungsbildung werden dadurch erschwert, da mehr und eher gleichstarke Partner miteinander verhandeln müssen. Schon die Verhandlungen von 2017 haben dies gezeigt. Für die Demokratie muss dies aber nichts Schlechtes bedeuten, da Mehrparteienregierungen nicht automatisch größere politische Instabilität bedeuten.

Tatsächlich zeigen gerade die Beispiele USA und Großbritannien, dass oft die Zweiparteiensysteme diejenigen mit den polarisiertesten Gesellschaften sind. Für die nächsten Wahlen bedeutet dies zugleich: Taktisch zu wählen ist (nicht nur aufgrund unseres Wahlrechts) eine schlechte Idee. Denn die alten Verbindungen wie Rot-Grün oder Schwarz-Gelb sind weitgehend Geschichte. Nach aktuellem Stand sind nach der nächsten Bundestagswahl ein halbes Dutzend Koalitionsoptionen denkbar. Wer also aus taktischen Gründen eine bestimmte Partei wählt, könnte mit einer Regierung aufwachen, die er gerade verhindern wollte. Stattdessen sollten jede Wählerin und jeder Wähler diejenige Partei wählen, die ihm oder ihr programmatisch am nächsten ist.

Fest steht: In der deutschen Politik tut sich so viel wie schon lange nicht mehr. Die Bundestagswahlen 2021 werden ein Meilenstein sein auf dem Weg zu einem neuen deutschen Parteiensystem, mit dem die alte Bundesrepublik endgültig begraben wird. Ob die alten Volksparteien ihren früheren Status als ebensolche wiedererlangen oder neue Volksparteien auftauchen werden, ist dabei offen. Es bleibt also spannend.

Ein Gordischer Knoten namens Nord Stream 2

Weshalb wird so emotional, so aggressiv und teils drohend über eine Pipeline gesprochen, die beinahe vollendet ist? Eines scheint festzustehen: Welchen Ausgang die Geschichte auch nimmt, viele mächtige und einflussreiche Leute werden am Ende in die Röhre gucken.

Die Röhre

Derzeit ist sie mal wieder in aller Munde, die vielleicht umstrittenste Pipeline aller Zeiten. Nord Stream 2 sollte einst Erdgas von Russland durch die Ostsee auf direkten Weg nach Deutschland transportieren (siehe Karte).

Quelle: Samuel Bailey / CC BY 3.0 / Keine Änderungen vorgenommen

Der Amtsantritt der neuen US-Regierung, die Gründung einer ominösen „Umweltstiftung“ durch die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern und die Festnahme des russischen Oppositionellen Alexei Nawalny bilden nun drei nur scheinbar voneinander unabhängige Anlässe, die die Debatte um das Projekt neu anheizen. Kurz gesagt geht es dabei um die Frage, ob man die Pipeline, die zu rund 98 % fertiggestellt ist, vollenden oder den Bau einstellen soll. Die Debatte über die Pipeline ist sehr international und sehr emotional. Dabei stehen sich zwei sehr heterogene Gruppen gegenüber:

Die Frontstellung

1.) Die Befürworter: Zu diesen gehören der größere Teil der Bundesregierung einschließlich Kanzlerin Angela Merkel, die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern um Ministerpräsidentin Manuela Schwesig, die russische Regierung, die örtliche Gaswirtschaft im Nordosten sowie der russische Konzern Gazprom. Außerdem wird Nord Stream 2 von Mitgliedern aus allen Bundestagsparteien gestützt, wobei die Linke und die AfD die einhelligsten Unterstützter sind. Union und SPD sowie Grüne und FDP sind gespalten.

2.) Die Gegner: Ähnlich bunt aufgestellt ist die Gruppe der Projektgegner. Wichtigster Gegner dürfte die US-Regierung sein, und zwar die alte ebenso wie die neue unter Präsident Joe Biden. Auch mehrere osteuropäische Regierungen – speziell die der Ukraine sowie Polens und der baltischen Staaten – lehnen die Pipeline ab. Die EU-Kommission sieht das Projekt ebenfalls kritisch. In Deutschland selbst sind es vor allem Umwelt- und Klimaschützer um „Fridays for Future“, Greenpeace und den Nabu, die sich gegen Nord Stream 2 stellen. Hinzu kommen ebenso wie bei den Befürwortern kritische Stimmen aus allen deutschen Parteien (mit Ausnahme der AfD und der Linken). Nennenswert sind hier etwa der CDU-Außenpolitiker und frisch verhinderte Parteichef Norbert Röttgen sowie der Grünen-Chef Robert Habeck. Eine gute, immer noch aktuelle Übersicht über die deutsche Gemengelage in Sachen Nord Stream 2 bietet dieser SZ-Artikel aus dem September 2020.

Die Argumente und Interessen

Doch warum ist die Lage so vertrackt? Weshalb wird so emotional, so aggressiv und teils drohend über eine Pipeline gesprochen, die wie beschrieben beinahe vollendet ist? Eines scheint festzustehen: Welchen Ausgang die Geschichte auch nimmt, viele mächtige und einflussreiche Leute werden am Ende – man verzeihe mir den Kalauer – in die Röhre gucken.

Derweil steht eines fest: Die jahrelang wiederholte Behauptung von Kanzlerin Merkel, bei Nord Stream 2 handele es sich um „ein rein wirtschaftliches Projekt“, war und ist eine denkbar naive Aussage. Das Projekt ist kein rein wirtschaftliches, und das war es auch nie. Vielmehr hatte das Projekt von Anfang an absehbare politische Folgewirkungen. Und diese sind es auch, die es so umstritten machen. Gehen wir die Interessenlage und die vorgebrachten Argumente doch einmal durch:

  • Geld: Mit Erdgas lässt sich viel Geld verdienen. Der russische Konzern Gazprom hat ab 2010 die erste Röhre durch die Ostsee gelegt (Nord Stream 1) und sich eine goldene Nase mit dem Gas verdient. Auch für die lokale Wirtschaft in Vorpommern ist die Röhre wichtig: Vor allem die Städte Sassnitz (Fährhafen) und Greifswald (Ankunftsort der Pipeline) profitieren stark von Nord Stream. Auf der anderen Seite würden US-Energiekonzerne ihr aus Fracking gewonnenes Flüssiggas gerne nach Europa exportieren. Dafür gibt es aber kaum Bedarf, wenn schon die Russen genug Gas liefern. Entsprechend sind auch viele Leute in Wilhelmshaven und Brunsbüttel, wo derzeit Flüssiggasterminals geplant werden, sehr an einem Scheitern von Nord Stream 2 interessiert.
Der damalige russische Präsident Dmitri Medwedew im Jahr 2010 bei der Zeremonie zum Baubeginn des Unterwasserabschnitts der Nord-Stream 1-Gaspipeline (Quelle: Pressebüro des Kreml / CC BY 3.0 / Keine Änderungen vorgenommen)
  • Die „kleine Politik“ oder: Der Faktor Ostdeutschland: Wie eben beschrieben wäre Nord Stream 2 für Mecklenburg-Vorpommern ein ökonomischer „Boost“. Die Pipeline schafft gut bezahlte Arbeitsplätze, die im strukturschwachen Osten rar sind. Würde das Projekt eingestellt, würden viele Hoffnungen zerbersten. Dies würde bei den Betroffenen einmal mehr das Gefühl auslösen, dass ihre ostdeutschen Interessen in der Bunderepublik nichts zählen. Ein neuer Opfermythos, diesmal durchaus begründet, könnte die eine Folge, noch mehr Stimmen für die AfD die andere Folge sein. Hinzu kommt: Ohnehin vertrauen viele Ostdeutsche schon länger eher der russischen als der eigenen Regierung. Die Entfremdung zwischen Ostdeutschen und dem Staat könnte bei einem Stopp für Nord Stream 2 also nochmal wachsen.
  • Die „große Politik“: Nord Stream 2 würde es ermöglichen, noch mehr russisches Gas ohne Umweg über Polen, die Ukraine und das Baltikum direkt nach Mitteleuropa zu transportieren. Entsprechend fürchten die bisherigen Transitländer zum einen um ihre Einnahmen, zum anderen um ihre Unabhängigkeit. Denn wenn ihre Pipelines nur noch sie selbst versorgen, könnte der russischen Regierung ein attraktives Drohpotenzial zur Erpressung dieser Länder zur Verfügung stehen. Und Konflikte zwischen Russen und Osteuropäern gibt es reichlich, die Ostukraine und die Krim lassen grüßen. Aus diesem Grund sieht auch die EU-Kommission das Vorhaben kritisch, auch wenn sie einst zähneknirschend das Projekt genehmigt hat. Die russische und die deutsche Regierung sind dagegen aus offensichtlichen Gründen für das Projekt, die Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern sowieso. Richtig kernig wurde die Auseinandersetzung aber erst, als sich ab 2017 die USA für die Pipeline zu interessieren begonnen haben. Sowohl die Trump- wie auch die Biden-Administration sehen die Röhre kritisch, weil sie fürchten, Deutschland könnte sich von Russland energiepolitisch abhängig machen. Der gemeinsamen Arbeit in der NATO wäre das ihrer Ansicht nach abträglich. Im Extremfall, so fürchtet man wohl, könnte Deutschland zum „freien Radikal“ in Europa werden, das in den globalen Streitfragen mal mit den USA, mal mit Russland gemeinsame Sache macht. Auch deshalb hat der US-Kongress aggressive Sanktionen gegen die an dem Projekt beteiligten Firmen veranlasst. Diese führten Anfang 2020 gar zu einem bis heute anhaltenden Baustopp.

In der Zwickmühle

Für die deutsche Politik erwächst vor allem aus den US-Sanktionen ein Dilemma: Entweder sie beugt sich dem Druck und stellt das Projekt ein. Dann werden nicht nur die Befürworter der Pipeline massiv enttäuscht sein, sondern es droht auch ein Konflikt mit Russland und ein nationaler wie internationaler Prestigeverlust nach dem Motto: „Ihr feigen Schwächlinge habt euch mal wieder den Amis gebeugt“. Ignoriert sie dagegen die Sanktionen oder verhängt gar Gegensanktionen, riskiert sie die erhoffte gute Beziehung zur neuen US-Regierung und spaltet die EU weiter.

Alle Akteure haben demnach viel zu verlieren in diesem Großkonflikt. Gesucht wird also ein Ausweg, bei dem alle Beteiligten ihr Gesicht wahren können. Ich glaube, ein solcher Ausweg existiert, auch wenn er den Beteiligten etwas Kreativität und einen letzten Rest an gegenseitigem Vertrauen abverlangt.

Nord Stream 2: Die Lösung

Die Pipeline wird nicht zu Ende gebaut. Oder sie wird zu Ende gebaut, dann aber nicht genutzt. Egal. Der Punkt ist: Durch Nord Stream 2 wird kein einziger Kubikmeter Erdgas nach Deutschland fließen. Um dieses Ergebnis zu erreichen und trotzdem keinen der Beteiligten zu vergrämen, ist es jedoch notwendig, ein kleines Schauspiel aufzuführen. Das Ziel: Alle Akteure, Befürworter wie Gegner der Pipeline, sollen ihr Gesicht wahren können.

Zuerst müssen die Bundesregierung und die US-Regierung sich zusammensetzen und einen Deal vereinbaren. Dieser Deal sähe wie folgt aus: Die Bundesregierung versichert den USA in Geheimgesprächen, Nord Stream 2 aufzugeben – aber erst einige Wochen oder Monate nachdem die USA ihre Sanktionen beendet haben. Da in den USA selbst derzeit ganz andere Themen dominieren, wird es für diesen Schritt kaum nennenswerte öffentliche Aufmerksamkeit geben, die Kritik sich in Grenzen halten und den Durchschnittsamerikaner nicht interessieren. Für Biden ist das Risiko daher gering. In Deutschland kann sich derweil die CDU-geführte Bundesregierung im Wahljahr feiern lassen für ihre Durchsetzungskraft gegenüber den „Amis“.

In der Zwischenzeit – und natürlich in der Folge der Sanktionsaufgabe – geht der Protest von Umweltschützern gegen das Projekt weiter und intensiviert sich (und ließe sich vielleicht auf dem einen oder anderen Wege noch ein wenig anstacheln…). Zum mit den USA vereinbarten Zeitpunkt, wenn möglich gar erst nach der Bundestagswahl im Herbst, gibt die neue Bundesregierung (mit großer Wahrscheinlichkeit schwarz-grün) bekannt, aufgrund der massiven Bedenken wegen des Klimaschutzes und aufgrund des Drängens der Grünen Nord Stream 2 aufzugeben. Als weitere Begründungen könnten noch die russische Außenpolitik und der Umgang mit Oppositionellen wie Alexei Nawalny genannt werden. Trotzdem sagt Deutschland zugleich zu, weiter Gas über Nord Stream 1 zu beziehen und mit den Russen auch weiterhin beim Betrieb dieser ersten Röhre zusammenzuarbeiten.

Zeitgleich mit dem für die allermeisten Leute überraschenden Ende der Pipeline legt die Bundesregierung zudem ein großes Infrastrukturprogramm für Vorpommern auf. Sie pumpt Milliarden in Umgehungsstraßen und Spaßbäder und siedelt vor allem mehrere der längst versprochenen Bundesbehörden in der Region an. Die Landesregierung grummelt kurz, sieht dann aber ein, dass der Deal kein schlechter ist.

Das Ergebnis? Im Nordosten entstehen auch ohne neue Pipeline neue Arbeitsplätze, die Ostdeutschen fühlen sich ausnahmsweise einmal fair behandelt. Das Verhältnis zu den USA bessert sich deutlich, ohne in der Öffentlichkeit vor den USA einknicken zu müssen. Die osteuropäischen Staaten sind Deutschland unendlich dankbar, die Spaltung der EU zumindest in dieser Frage aufgelöst. Die Klimabewegung kann einen weiteren Erfolg verbuchen, die neue Bundesregierung hat einen guten Start. Lediglich die russische Regierung wäre wohl nicht erfreut. Allerdings hat das Projekt aus russischer Sicht ohnehin an Wichtigkeit verloren und auch Putin weiß, dass der Verkauf von Erdgas in Zeiten der Erderhitzung kein langfristiges Geschäftsmodell mehr ist. Aus demselben Grund wird wohl auch trotz des Endes von Nord Stream 2 nur wenig US-Flüssiggas in Deutschland ankommen. Auf diesem Wege hätte man einen internationalen Großkonflikt friedlich und ziemlich einvernehmlich beigelegt, ohne es sich mit einem der Akteure dauerhaft zu verscherzen.

Nord Stream 2: Fazit

Ob das hier skizzierte Szenario so eintritt, kann niemand vorhersagen. Zugegeben, es verlangt allen Beteiligten gegenseitiges Vertrauen und eine gute Portion Chuzpe ab. Angesichts der verquasten Umstände wird es aber nötig sein, kreative und für alle Beteiligten gesichtswahrende Wege zu finden, Nord Stream 2 zu beerdigen. Der oben präsentierte Weg bietet sich dafür an.

Zum deutschen Wahlrecht – warum wir eine große Reform brauchen

Mit der sich abzeichnenden erneuten Pleite in Sachen Bundestagswahlrecht haben die Parteien CDU, CSU und SPD dem Ansehen des Bundestages und der Demokratie beim Thema Wahlrecht einmal mehr erheblichen Schaden zugefügt. Allen drei Parteien ging es mit ihren kaum ernst gemeinten „Kompromissvorschlägen“ der letzten Monate erkennbar nicht darum, ein neues, ausgeglichenes und faires Wahlrecht zu schaffen, sondern ausschließlich um ihren eigenen parteipolitischen Vorteil. So wird es nun vermutlich nicht einmal gelingen, wenigstens für die nächste Bundestagswahl vorübergehend ein neues Wahlrecht zu verabschieden, welches später dann grundlegender hätte verändert werden können. Somit bleibt es beim aktuell gültigen Wahlrecht, das wahrscheinlich schon bei der nächsten Wahl 2021 für eine Aufblähung des Bundestages auf bis zu 800 Sitze oder mehr sorgen wird. Dieser Zustand ist aus drei Gründen auf Dauer unhaltbar:

  • Erstens, weil zu viele Abgeordnete die Arbeitsfähigkeit des Bundestages reduzieren: Je mehr Abgeordnete in Ausschüssen und im Plenum sitzen, desto länger müssen die Redezeiten sein, desto mehr Büroräume (oder Container) werden gebraucht und desto schwieriger wird es, gute zwischenmenschliche Beziehungen zueinander aufzubauen, weil man sich ja auch mit so viel anderen Kolleginnen und Kollegen treffen könnte…
  • Zweitens, weil die zusätzlichen Abgeordneten die Steuerzahler viele Millionen Euro kosten: Diäten, Pauschalen, Reisekosten, Büros, Mitarbeiter usw. Jeder Abgeordnete kostet rund eine halbe Million Euro jährlich (Datengrundlage: Bund der Steuerzahler, eigene Berechnung). Ein Parlament mit 800 statt der vorgesehen rund 600 Abgeordneten würde uns also die stattliche Summe von von 100 Millionen Euro jedes Jahr zusätzlich kosten!
  • Drittens, und dies ist das wichtigste: Auch aus den beiden bereits genannten Gründen sehen viele Leute (der Verfasser dieser Zeilen eingeschlossen) das Scheitern der Wahlrechtsreform sowie den Bläh-Bundestag sehr kritisch. Bedauerlicherweise gibt nun die ganze Problematik den zahlreichen Extremisten, Demokratie-Feinden und anderen finsteren Zeitgenossen die ideale Gelegenheit, kräftig gegen das Parlament, die Parteien und die Demokratie insgesamt zu hetzen. Da ihre Angriffe aber durch das Scheitern der Reform auf einem wahren Kern beruhen – und dies ist immer schon die gefährlichste Art des pauschalisierenden Angriffes gewesen! – werden ihre Tiraden auf fruchtbaren Boden fallen und von genug Mitbürgerinnen und Mitbürgern aufgenommen werden. Für den schon seit vielen Jahren um seine Reputation kämpfenden Bundestag ist dies die denkbar schlechteste Entwicklung.

Doch wie könnten wir aus der Misere kommen? Zunächst ein paar Worte zum Status quo:

Das aktuelle Wahlrecht

Seit langer Zeit haben die Wählerinnen und Wähler bei Bundestagswahlen zwei Stimmen: Zum einen eine Erststimme, mit der sie eine Person auf dem Wahlzettel „direkt“ für den jeweiligen Wahlkreis in den Bundestag wählen. Derjenige Kandidat, der die meisten Stimmen in einem Wahlkreis auf sich vereint, erhält auf jeden Fall einen Sitz im Bundestag – egal, ob er zu einer Partei gehört und wenn ja, zu welcher. Auch sein oder ihr Stimmenvorsprung ist irrelevant. Ob man also mit 55 Prozent der Stimmen oder 25 Prozent der Stimmen gewählt wird, ist nicht entscheidend. Mit der Zweitstimme wählen die Wähler die Landesliste einer Partei. Erhält die Partei mehr als fünf Prozent der deutschlandweit abgegeben Stimmen, ziehen ihre Kandidaten in der Reihenfolge ihrer Listenplatzierung ins Parlament ein. Dabei werden jedoch die zuvor direkt gewählten Abgeordneten abgezogen. Erringt eine Partei also durch ihren Zweitstimmenanteil 60 Sitze und wurden bereits 43 ihrer Kandidaten direkt gewählt, ziehen nur noch 17 zusätzliche Listenbewerber ins Parlament ein. Und hier beginnen die Probleme.

Denn eine Partei kann mehr Direktmandate erringen als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis eigentlich zustünden. Die „überschüssigen“ Mandate nennt man „Überhangmandate“. Bei der letzten Bundestagswahl errangen etwa die CDU 36, die CSU sieben und die SPD drei Überhangmandate. Um nun aber das „eigentliche“ Wahlergebnis der Zweitstimmen nicht zu verfälschen, gibt es seit 2013 Ausgleichsmandate für diejenigen Parteien, die keine solchen Überhangmandate erhielten. Eigentlich eine gute, sinnvolle Sache. Denn die Zweitstimmen bilden wesentlich besser den Wählerwillen ab als die Erststimme, bei der ja alle Stimmen der unterlegenen Kandidaten unter den Tisch fallen. Das Problem: Um neben dem Mandatsverhältnis zwischen den Parteien auch jenes zwischen den Bundesländern zu erhalten, müssen zusätzlich weitere Ausgleichsmandate vergeben werden, um nicht den lustigen Föderalismus-Proporz aufzuweichen. Im Klartext: Es kann sein, dass wegen eines CSU-Überhangmandats in Bayern zunächst die SPD in Nordrhein-Westfalen ein Ausgleichsmandat bekommt. Weil nun aber Bayern und NRW übermäßig im Bundestag vertreten sind, gibt es nun noch ein Mandat für die FDP in Hessen. Weil nun aber die FDP zu stark vertreten ist, brauchen die Grünen in Hamburg und die AfD in Sachsen auch noch ein Mandat. Und immer so weiter, bis sich eine regelrechte Kaskade aus Überhangs- und Ausgleichsmandaten entwickelt.

Dieser Irrsinn hat dazu geführt, dass bei der Bundestagswahl 2013 gerade einmal vier Überhangmandate, alle für die CDU, ganze 29 (!) Ausgleichsmandate nach sich zogen. Am Ende bekam die CDU für ihre eigenen vier Überhangmandate auch noch 13 Ausgleichsmandate – weil ja sonst alle Bundesländer ohne Überhangmandate benachteiligt gewesen wären! Doch trotz dieser offensichtlichen Idiotie sind alle heutigen Reformvorschläge geplatzt: Eine Verringerung der Wahlkreise wird vor allem von CSU und SPD abgelehnt, ein Beschneiden der Ausgleichsmandate von den kleineren Parteien. Vermutlich wollen alle Beteiligten einfach nicht riskieren, ihre eigenen Mandate oder die ihrer Parteikollegen dadurch zu verlieren, dass der Bundestag durch eine Reform am Ende wirklich spürbar kleiner wird. Was es also braucht, ist eine echte, radikale Reform, die das Problem an der Wurzel packt.

Mein Reformvorschlag

Ich gebe zu: Was folgt, ist ziemlich radikal. Und ungewöhnlich. Aber meine Auffassung ist es, dass wir in der vertrackten Lage, in der wir uns befinden, dringend innovative und dauerhafte Lösungen brauchen. Zugleich ist mein Vorschlag, den ich außerhalb dieses Blogs schon seit Längerem in Diskussionen vertrete, auch eine Chance, unser Wahlrecht grundsätzlich zu entschlacken und demokratischer zu machen. Mein Vorschlag ist dabei zwar wie gesagt radikal, aber simpel. Er besteht aus drei Komponenten:

  • 1.) Abschaffung der Wahlkreise
  • 2.) Öffnung der Landeslisten
  • 3.) Einführung eines Familienwahlrechts

Damit verfolge ich wiederum drei Ziele:

  • 1.) Demokratisierung des Wahlrechts
  • 2.) Vereinfachung des Wahlrechts
  • 3.) Erhaltung der Arbeitsfähigkeit des Bundestages

Doch wie genau tragen nun die drei Komponenten meiner Reformidee zur Erreichung der drei Ziele bei?

1.) Die Abschaffung der Wahlkreise

Konkret soll folgendes passieren: Die Wahlkreise werden abgeschafft. Die häufig gehörte Begründung für ihre angebliche Wichtigkeit lautet, die Wählerinnen und Wähler würden sich mit ihrem direkt gewählten Abgeordneten identifizieren. Doch dies ist durch Studien hinreichend widerlegt. Tatsächlich kennt die Mehrheit der Bürger ihre regionalen Abgeordneten nicht. Einer Studie der Landeszentrale für politische Bildung aus NRW zufolge (siehe hier, Seite 22) kannten nur 46 Prozent der Befragten ihre Bundes- und Landtagsabgeordneten. Und dies dürfte, wie auch die Autorinnen und Autoren der Studie nahelegen, noch zu hoch gegriffen sein. Realistisch scheinen eher 30-35 Prozent zu sein. Dies ist auch einer der zwei Gründe, weswegen das ebenso radikale Gegenmodell zu meinem Vorschlag, nämlich eine Abschaffung der Listen zugunsten der Wahlkreise, nicht zielführend ist. Der andere Grund ist, dass in einem solchen System selbst fähige Kandidatinnen und Kandidaten keine Chance auf Einzug in den Bundestag hätten, wenn sie schlicht im „falschen“ Wahlkreis leben (als Grüner in Cloppenburg, als CDUler in Berlin-Kreuzberg usw.), in dem ihre Partei traditionell schwach abschneidet und sie so selbst bei einem überdurchschnittlichem Ergebnis nicht zum Zuge kämen.

2.) Offene Landeslisten

Tatsächlich wünschen sich aber viele Bürger eine verstärkte Personalisierung ihrer Wahlmöglichkeiten. Hier kommt die zweite Komponente zum Tragen: Obwohl, siehe oben, viele Menschen ihre regionalen Abgeordneten nicht kennen, sieht dies für Politiker insgesamt schon ganz anders aus. Viele Abgeordnete, auch „Nicht-Promis“, haben in bestimmten Bevölkerungsschichten ihre „Fans“, können von diesen aber im aktuellen Wahlrecht kaum gezielt unterstützt werden. Ein Beispiel: Eine Landwirtin aus Wittmund ist sehr zufrieden mit der agrarpolitischen Sprecherin einer bestimmten Partei und würde diese daher gerne unterstützen. Diese kommt aber aus Lüneburg. Unsere Landwirtin hat daher keine Chance, sie gezielt zu wählen: Auf der Landesliste ihrer Partei steht sie vielleicht weit unten, und Lüneburg ist ein ganz anderer Wahlkreis als Wittmund. Öffnete man nun aber die Landeslisten, könnte auch die Landwirtin aus Wittmund ihre bevorzugte Kandidatin aus Lüneburg unterstützen. Ähnlich wie bei einer Kommunalwahl würde nämlich nun hinter jedem Listenkandidaten ein Kreis gedruckt sein, auf dem die Wählerin ihr Kreuz setzen könnte. Auf diese Weise könnten wir auch die unglückliche Debatte über die Sinnhaftigkeit paritätisch zu besetzender Listen (siehe etwa hier) beenden: Wollen Wählerinnen und Wähler gezielt Frauen unterstützen, wären geöffnete Listen dazu die ideale Lösung. Der Einfachheit halber sollten wir aber auf Kumulieren und Panaschieren (also die Möglichkeit, drei oder mehr Stimmen auf mehrere Kandidaten zu verteilen) verzichten: Dies schaffte nur neues Chaos.

3.) Einführung des Familienwahlrechtes

Um das neue Wahlrecht zu vervollständigen, sollten wir zudem dringend über die Einführung eines Familienwahlrechts nachdenken. Tatsächlich ist das Versprechen des Grundgesetzes auf „allgemeine“ Wahlen (Art. 38, Abs. 1 GG) streng genommen nicht erfüllt worden. Kindern und Jugendlichen bleibt ihre Stimme verwehrt, die ihnen eigentlich zustünde. Natürlich ist klar, dass Babys oder (Klein-)Kinder aus naheliegenden Gründen noch nicht in der Lage sind, ihre Stimmen bei Wahlen selbst abzugeben oder sich auch nur eine fundierte Meinung über politische Zusammenhänge zu bilden. Für ihre Eltern, die die Last zusätzlicher Verantwortung für ihre Kinder zu schultern haben, gilt dies aber nicht. Und auch viele 16- und 17-Jährige, das haben nicht nur die jüngeren Ereignisse rund um die Klimaschutzproteste oder die Uploadfilter-Debatten gezeigt, sind politisch „reif genug“ zum Wählen. Zudem darf man schon mit 17 zur Bundeswehr, und auch anderswo arbeiten gehen (und somit Steuern und Abgaben zahlen) darf man schon als Jugendlicher – während umgekehrt einem 40-Jährigen, der nie gearbeitet hat, das Wahlrecht auch nicht entzogen wird. Das in Stammtischkreisen gelegentlich gehörte Gegenargument, das Wahlrecht solle auf Steuerzahlende beschränkt sein, zieht also schon heute nicht.

Wir sollten daher das aktive Wahlrecht auf 16 Jahre senken. Und, noch wichtiger, den Eltern jüngerer Kinder das Wahlrecht stellvertretend für letztere übertragen. Wie wäre dies zu bewerkstelligen? Relativ einfach ist es bei Alleinerziehenden mit alleinigem Sorgerecht: Hier erhält der Erziehungsberechtigte alle Stimmen für seine oder ihre Kinder. Bei Paaren mit geteiltem Sorgerecht (also im Regelfall) könnte man wie folgt vorgehen: Bei einer „geraden Kinderzahl“, also etwa zwei oder vier Kindern, teilen sich die Sorgeberechtigten die Stimmen auf: Jeder erhält eine weitere Stimme bei zwei Kindern unter 16 Jahren, jeder zwei Stimmen bei vier Kindern usw. Problematischer sind „ungerade Kinderzahlen“ bei geteiltem Sorgerecht. Hat ein Paar etwa drei Kinder, könnte zwar jeder Erziehungsberechtigte zunächst mal eine Stimme zusätzlich erhalten. Die dritte „Kindestimme“ bliebe aber übrig. Aber auch hier liegt eine gute Lösung auf der Hand: Es wird gelost. Hat ein (im Beispiel heterosexuelles) Paar etwa drei Kinder, erhalten Mutter und Vater je eine Stimme zusätzlich. Die dritte Stimme wird bei der Verlosung nun, sagen wir, zunächst dem Vater zugelost. Der erhält bei der nächsten Wahl also zwei Stimmzettel zusätzlich, die Mutter einen. Von da an wird dann immer gewechselt. Bei der übernächsten Wahl hat also die Mutter zwei Stimmen mehr, der Vater nur eine. Dann geht die dritte Zusatzstimme wieder zurück, und wieder hin, bis das Kind das 16. Lebensjahr vollendet hat und selbst wählen darf. Auf diese Weise ist ein faires, generationengerechtes und vor allem wirklich demokratisches Wahlrecht möglich. Denn wer kann heute noch allen Ernstes behaupten, ein kinderloses Doppelverdienerpaar mit hohem Einkommen sollte in unserer Demokratie mehr Stimmen bekommen als eine alleinerziehende Mutter, die die Last der Erziehung dreier Kleinkinder tragen muss und somit nebenbei die solidarische Rentenversicherung am Leben erhält? Ist dies wirklich fair? Eben.

Fazit

Drei Vorschläge, eine Stoßrichtung: Demokratischer, einfacher und die Arbeitsfähigkeit des Parlaments erhaltend soll das neue Wahlrecht sein. Letzteres wird gewährleistet, weil durch die Abschaffung einer der beiden Stimmen und der Wahlkreise das Problem der Überhang- und Ausgleichsmandate an der Wurzel gepackt und somit im Wortsinne radikal (von lat. „radix“ = Wurzel) gelöst wird. Die Zahl der Abgeordneten bleibt daher konstant. Es wird zudem einfacher zugehen, weil die Wählerinnen und Wähler nur noch eine Stimme haben und die Verwirrung über komplizierte Ausgleichsregelungen zwischen Parteien und Bundesländern der Vergangenheit angehören wird. Und schließlich – und dies ist das Wichtigste – kann der von mir unterbreitete Reformvorschlag durch das Familienwahlrecht und die offenen Listen unser Wahlrecht demokratisieren, den Wählerinnen und Wählern mehr Auswahl ermöglichen und endlich das Versprechen der allgemeinen Wahl erfüllen. Ich bin daher der festen Überzeugung, dass die hier erläuterten Maßnahmen der beste Weg sind, unser Wahlrecht grundlegend und dauerhaft zu reformieren. Unsere Demokratie sollte es uns wert sein.