Der Ukraine-Krieg und seine Folgen

Es ist Krieg in Europa. Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 beginnt eine neue Phase der europäischen Geschichte. Mit meiner Prognose vom Januar 2022, ein Krieg in der Ukraine sei sehr wahrscheinlich, habe ich leider Recht behalten. Das Wort von der „Zeitenwende“, welches Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bemüht, trifft diese Situation sehr gut. Denn mit dem Ukraine-Krieg gibt es zum ersten Mal seit 1939/45 einen klassischen zwischenstaatlichen Angriffskrieg in Europa. Ein solcher hat nicht nur theoretisch-völkerrechtlich, sondern auch praktisch-politisch eine andere Dimension als etwa die Bürgerkriegsinterventionen der 1990er Jahre auf dem Balkan. Aus diesem und vielen weiteren Gründen (siehe nächster Abschnitt) ist es auch legitim, dem Krieg in der Ukraine aus europäischer Sicht deutlich mehr Aufmerksamkeit zu schenken als den fürchterlichen Ereignissen in anderen Weltregionen.

Ein zerstörtes Haus bei Chernihiv, Nordukraine
Quelle: Staatlicher Dienst für Notfallsituationen der Ukraine / CC BY 4.0

Ukraine-Krieg: Der Stand der Dinge

Aktuell kann noch niemand mit Gewissheit sagen, wie der Ukraine-Krieg ausgehen wird. Verlässliche Infos über den Frontverlauf, militärische und zivile Verluste sowie den Zustand der Kriegsparteien sind schwer zu bekommen. Die meiner Einschätzung nach verlässlichsten Informationen teilen derzeit der britische Militärgeheimdienst sowie eine Reihe meist US-amerikanischer Militärjournalisten (etwa 1, 2, 3), die sich auf Open Source Intelligence (OSINT) spezialisiert haben. Die hier verlinkten Akteure sind allesamt auf Twitter aktiv. Da sich die Lage in der Ukraine häufig ändert, möchte ich hier indes nicht weiter darauf eingehen, sondern mich mit grundsätzlicheren Fragen befassen.

Unabhängig vom Verlauf des Krieges ist das derzeitige Ausmaß der internationalen Solidarität mit der Ukraine bemerkenswert. Aus aller Welt erreichen Waffen und Hilfslieferungen das Land. Polen und Ungarn, eben noch die Staaten mit einer eher ablehnenden Haltung zu Migration, nehmen Millionen ukrainischer Flüchtlinge auf (auch wenn ein rassistischer Aspekt bei der Unterscheidung zwischen „guten“ ukrainischen und „schlechten“ syrischen Flüchtlingen keineswegs zu leugnen ist). Auch in anderen europäischen Staaten wie Rumänien, der Slowakei und auch Deutschland werden viele hilfsbedürftige Menschen aufgenommen. Deutschland legt eine 180°-Wende in der Sicherheitspolitik hin. In vielen Städten weltweit gibt es Massendemonstrationen gegen Wladimir Putin und seinen verbrecherischen Angriffskrieg. All dies ist gut und zeigt, dass internationale Solidarität kein leeres Schlagwort ist. Doch dürften die langfristigen Folgen des Krieges noch deutlich mehr Aufmerksamkeit von uns erfordern.

Im Folgenden erläutere ich daher zunächst, warum der Ukraine-Krieg unsere besondere Aufmerksamkeit verlangt, gerade auch im Vergleich zu anderen Konflikten der jüngeren Zeit. Anschließend möchte ich wahrscheinliche Folgen des Krieges für die internationale Politik darlegen. Zum Abschluss und als Teil des Fazits werde ich dann einige Handlungsoptionen aus deutscher bzw. europäischer Sicht skizzieren.

Warum der Krieg in der Ukraine für uns so wichtig ist

Auch abseits der Flüchtlingsfrage (wo der Vorwurf, siehe oben, berechtigt ist) wird öffentlich von einigen Menschen argumentiert, die große Anteilnahme am Ukraine-Krieg im Vergleich zur geringeren Anteilnahme an anderen Konflikten zeige rassistische Einstellungen. Ich halte dieses Argument für falsch. Dass die Ukraine international und besonders in Europa und im „Westen“ generell mehr Aufmerksamkeit erhält als etwa die Bürgerkriege in Syrien, im Jemen und in Libyen, hat handfeste Gründe:

  1. Die Ukraine ist uns in Europa deutlich näher, die Auswirkungen der Kämpfe erreichen uns also früher und in stärkerer Form. Diese Nähe ist dabei nicht nur physisch, sondern auch psychologisch ein wichtiger Faktor.
  2. Es gibt mehr persönliche Verbindungen zwischen Ukrainern und Westeuropäern, daher ist die persönliche Anteilnahme logischerweise höher, insbesondere wenn es um eigene Familienmitglieder geht.
  3. Geostrategisch ist die Ukraine aus Sicht der EU- und NATO-Mitglieder ungleich bedeutsamer als etwa Syrien oder Jemen.
  4. Anders als in den meisten Bürgerkriegen gibt es im Ukraine-Krieg eine glasklare Aufteilung in Täter (Russland) und Opfer (Ukraine). Der Kampf „Gut gegen Böse“ wird noch verstärkt durch den Eindruck einer Auseinandersetzung „David gegen Goliath“. In Syrien beispielsweise wüsste man doch gar nicht, welche Konfliktpartei man als am verachtenswertesten einstufen sollte: Das Assad-Regime? Den IS? Die anderen islamistischen Rebellen? Die Zeiten, als die „Freie Syrische Armee“ westliche Sympathien genoss, sind längst vorbei. Denn diese einst halbwegs demokratisch gesinnte Rebellengruppe ist teils zerstört, teils zu den Islamisten übergelaufen. Ähnliche Schlussfolgerungen lassen sich auch in Mali, Libyen und Jemen ziehen.
  5. Vor allem aber handelt es sich beim Ukraine-Krieg um den ersten vollumfänglichen Angriffskrieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Und auch außerhalb Europas muss man für den jüngsten offenen zwischenstaatlichen Angriffskrieg fast 20 Jahre zurückgehen, nämlich bis zum Irak-Krieg des Jahres 2003. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist eindeutig völkerrechtswidrig und verstößt eklatant gegen Artikel 2 der UN-Charta. Dieser Artikel verbietet es den Mitgliedstaaten, Kriege gegen ihre Nachbarn zu führen.

All dies ändert nichts daran, dass die Menschen in Syrien oder Jemen genauso stark leiden wie die in der Ukraine. Zugleich ist klar, dass die russische Invasion der Ukraine eine neue Dimension internationaler Aggression, insbesondere auf europäischem Boden, darstellt. Doch welche Folgen hat der Konflikt schon jetzt und in Zukunft?

Die Folgen von Putins Angriffskrieg

Die Gute Nachricht zuerst: Wladimir Putin erreicht mit seinem Vernichtungsfeldzug gegen die Ukraine in allen Punkten das exakte Gegenteil dessen, was er sich vorher ausgerechnet hat:

Die Ukraine

Putin wollte die Ukraine mit einem Blitzkrieg-Feldzug „heim ins Reich“ holen. Doch dieser Versuch ist krachend gescheitert am Widerstand der ukrainischen Armee und des ukrainischen Volkes. Putin hat sich offenbar in seine eigene verlogene und historisch leicht widerlegbare Propaganda verrannt, die die Ukraine als „Nicht-Staat“ und ihre Bewohnerinnen und Bewohner als „Nicht-Volk“ verhöhnt. Doch die ukrainischen Streitkräfte leisten seit dem ersten Tag der Invasion den russischen Angreifern erbitterten Widerstand. Der Ukraine-Krieg dürfte lang und leider sehr blutig werden – für alle Beteiligten.

Auch wenn konkrete Zahlen dazu schwer zu bekommen und die Angaben der Konfliktparteien mit größter Vorsicht zu genießen sind, schält sich ungefähr folgendes Verhältnis heraus: Für jeden getöteten ukrainischen Soldaten sterben 1,5 bis 2 russische. Bei den Panzern, Fahrzeugen, Geschützen, Hubschraubern und Flugzeugen liegt die Verlustquote derzeit bei 1:3 bis 1:4. Und das sind nur die sicher dokumentierten Verluste. Fakt ist: Selbst wenn Russlands Armee diesen Krieg doch noch gewinnen sollte, wäre es ein klassischer Pyrrhussieg. Und dieser wird die Einsatzbereitschaft der russischen Armee auf Jahre hinaus deutlich reduzieren. Ganz zu schweigen von dem, was Russlands Armee blüht, wenn sie eine Besatzung der Ukraine organisieren müsste. Denn eines steht fest: Der Angriff auf das ukrainische „Brudervolk“ hat selbiges zu Putins und Russlands entschlossenstem Feind gemacht.

Bei der nachvollziehbaren Freude über das partielle russische Scheitern sollte man jedoch nicht denselben Fehler begehen wie die deutsche Regierung im Zweiten Weltkrieg. Nach dem Desaster, das die sowjetische Armee in Finnland 1939/40 erlebt hatte, wurde die Kampfkraft der Roten Armee chronisch unterschätzt. Dies war einer der Gründe für den verheerenden Entschluss Hitlers, 1941 die Sowjetunion anzugreifen. Nun plant im Westen zum Glück niemand einen NATO-Feldzug gegen Russland. Doch sollten wir uns nicht in falscher Sicherheit wiegen, nur weil die Russen in der Ukraine bisher so schwach auftreten. Die Ertüchtigung der europäischen Verteidigung bleibt richtig und wichtig, denn auch die Russen werden aus ihrem Ukraine-Desaster ihre Lehren ziehen.

Einer von zahlreichen zerstörten russischen Militärkonvois in der Ukraine
Quelle: Ukrainisches Innenministerium / CC BY 4.0

Der Westen

Auch hier hat Putin sich verkalkuliert. Er rechnete offenbar mit einigen symbolischen Sanktionen, die nach seinem erwarteten schnellen Sieg rasch aufgehoben würden. Eine krasse Fehleinschätzung. Die Wirtschaftssanktionen, die die EU, die USA, Großbritannien und weitere Staaten gegen Russland verhängt haben, sprengen alles bisher Dagewesene. Noch nie in der Geschichte wurde eine Atom- und Großmacht mit derartigen Sanktionen belegt: Weitgehender Ausschluss aus dem Swift-System, Ende von Nord Stream 2, Exportverbote für Hightech-Güter, Rückzüge von Unternehmen, Kontosperrungen, eingefrorene Oligarchen-Vermögen, geschlossene Lufträume und, und, und.

Schon jetzt ist die russische Wirtschaft angeschlagen, der Rubel und die Exporte sind eingebrochen, das BIP könnte im zweiten Quartal um mehr als 35 % einbrechen. Die USA haben darüber hinaus bereits ein Ölembargo verhängt. Bei weiteren russischen Kriegsgräueln, etwa in Mariupol oder Charkiw, ist denkbar, dass sich die Europäer dem anschließen. Dies wäre der Todesstoß für die russische Ökonomie und den russischen Staat, der sich zu rund 43 % aus den Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft finanziert.

Quicklebendig dank Putin: Die NATO
Quelle: gemeinfreies Logo

Zudem agiert der Westen geschlossen und koordiniert. Transatlantische Spaltung, Brexit, NATO-„Hirntod“, EU-Fehden: alles vergessen. Dies ist eines der wenigen erfreulichen Resultate dieses furchtbaren Krieges, der so viel menschliches Leid verursacht. Auch rüsten westliche Staaten, insbesondere europäische wie Deutschland, nun massiv auf: zwei Prozent jährlich für Verteidigung, 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr. Vor Kurzem hätte dies noch einen Aufschrei ausgelöst. Doch nun ist der Widerstand dagegen sehr begrenzt, weil die Menschen wissen, dass mit dem Ukraine-Krieg eine neue Zeit angebrochen ist. Und diese neue Zeit erfordert nun einmal neue Antworten, auch wenn diese nicht schön sind. Wichtig ist dabei, dass die NATO einerseits nicht überreagiert, andererseits sich aber auch aus der „Berechenbarkeitsfalle“ heraus bewegt, die ihr der britische Diplomat John Raine attestiert hat.

China

Der russische Präsident war sich auch hier sicher: China würde ihm nicht nur nicht in den Arm fallen, sondern seinen Feldzug gegen die Ukraine in der einen oder anderen Form unterstützen. Auch dies dürfte sich als Fehlschluss Putins herausstellen. Zwar gibt es zu Recht größeres Rätselraten im Westen über die teils widersprüchlichen Reaktionen (etwa die Enthaltung im UN-Sicherheitsrat) der chinesischen Regierung. Doch kann sich die chinesische Regierung, trotz aller öffentlichen Ambivalenz in ihren Äußerungen, kaum über die russische Invasion freuen. Und dies hat mehrere Gründe:

  1. Die Argumente Wladimir Putins vor und während des Einmarsches sind aus chinesischer Sicht verheerend. Putin sprach oft davon, in der Ostukraine finde ein „Völkermord“ an Russen statt. Dies rechtfertige ein Eingreifen in der Ukraine. Für Präsident Xi Jinping, der seit Jahren schon einen zumindest kulturellen Genozid an den Uiguren in Westchina durchführen lässt, ist dies eine fatale Argumentation. Denn setzt sich diese Rechtsauffassung völkerrechtlich und moralisch international durch, muss er selbst mit mehr Kritik und Sanktionen für seinen Umgang mit den Uiguren rechnen.
  2. Auch dass Putin die beiden Separatistengebiete Donezk und Luhansk als unabhängige Staaten anerkannt hat, ist für China ein Graus. Schließlich verurteilt die chinesische Regierung bei jeder Gelegenheit „separatistische Aktivitäten“. Dies ist meist auf Taiwan, aber auch auf Hongkong gemünzt. Dort will China durchgreifen, und insbesondere im Konflikt um Taiwan argumentiert Xi Jinping auch mit der territorialen Unverletzlichkeit der Grenzen. Tatsächlich wird Taiwan nur von wenigen Staaten anerkannt. Doch wenn China Putin seine proseparatistische Nummer durchgehen lässt, wird es argumentativ künftig eng für Peking.
  3. Die neue westliche Geschlossenheit und das Wiederaufblühen von EU und NATO ist auch für China schlecht. Denn es muss nun mit größerer westlicher Skepsis gegenüber Autokratien ebenso rechnen wie mit verstärkter Gegenwehr, sollte China sich expansiv und völkerrechtswidrig verhalten. Dies gilt etwa für chinesische Ambitionen in Taiwan, Hongkong und im Südchinesischen Meer.
  4. Schließlich ist Russland aufgrund der hohen militärischen Verluste und der wirtschaftlichen Sanktionen auf Jahre bis Jahrzehnte massiv geschwächt. Als Anfang 2022 China und Russland einen „Freundschaftsvertrag“ abschlossen, war die chinesische Regierung davon ausgegangen, einen mächtigen Verbündeten zu gewinnen. Doch unabhängig davon, ob die Chinesen über den Angriff auf die Ukraine informiert waren oder nicht: Der Ukraine-Krieg wird Russland schwächen. Und an schwachen Alliierten hat niemand ein Interesse. Wenn man es zuspitzen wollte, könnte man sogar einen interessanten historischen Vergleich ziehen: Wladimir Putin könnte machtpolitisch für Xi Jinping zunehmend das werden, was Benito Mussolini in den 1940er Jahren für Adolf Hitler wurde: Der dusselige Verbündete, der ständig neue Konfliktherde aufmacht, dort scheitert und dann den „großen Bruder“ (damals Deutschland, heute China) mit reinzieht. Und wie die „Männerfreundschaft“ zwischen Hitler und Mussolini ausgegangen ist, wissen wir ja…

Fazit

Putin hat seinen verbrecherischen Feldzug lange vorbereitet: Er hat seit Jahren giftige antiukrainische Propaganda verbreitet. Er hat seine Armee aufgerüstet. Er hat den Westen und insbesondere Deutschland mit dem Versprechen auf goldene Wirtschaftsbeziehungen eingelullt. Er hat, auch dies eine Parallele zu Hitler und Mussolini, wie einst die beiden faschistischen Diktatoren im Spanischen Bürgerkrieg in Syrien seine Waffensysteme getestet und dabei Tausende Unschuldige umgebracht. Und er hat die Krim annektiert und den Donbass destabilisiert. Und nie hat der Westen entschlossen eingegriffen. Dass Appeasement aus einer Position der Schwäche nicht wirkt, hätte eigentlich eine weitere Lehre der Geschichte sein können. Aber zu viele wollten nicht wahrhaben, was ist.

Nun ist schnelles, entschlossenes Handeln angesagt. Der Ukraine-Krieg wird langfristige Folgen weit über Osteuropa hinaus haben. Die Weltordnung wird instabiler, Gewalt hoffähiger. Doch wir können reagieren. Eine größere Unabhängigkeit von russischem Gas, Öl und Kohle sind bereits in Planung. Der dazu nötige schnellere Ausbau der erneuerbaren Energien muss notfalls gegen Widerstände durchgezogen, Planungsverfahren beschleunigt werden. Jede und jeder von uns kann seine Heizung ein paar Grad kühler einstellen. Wer kann, sollte sein Auto öfters stehen lassen, sein Haus dämmen und allgemein sparsamer mit fossilen Energien umgehen.

Das Europäische Parlament in Straßburg
Quelle: Ralf Roletschek / CC-BY 3.0)

Vor allem aber müssen wir unsere Außen-, Sicherheits- und nicht zuletzt Europapolitik fundamental umstellen. Die angekündigten Mehrausgaben für Verteidigung sind da nur ein erster, wenn auch wichtiger Schritt. Die Idee einer Europäischen Armee muss nun in die konkrete Umsetzung gehen. Dazu werde ich später und an anderer Stelle noch etwas schreiben. Dabei gibt es keine Zeit zu verlieren, denn die europäische Sicherheit hat womöglich ein Verfallsdatum: den 20. Januar 2025. Sollte an diesem Tag Donald Trump oder ein anderer US-Republikaner ins Weiße Haus einziehen, könnte es für unseren Kontinent schwierig werden. Schließlich sind weite Teile von Trumps Partei der NATO und Europa gegenüber offen feindselig eingestellt. Und auf dieses mögliche Szenario, nämlich dass die Europäer praktisch von heute auf morgen auf eine eigene unabhängige Verteidigung angewiesen sind, müssen wir vorbereitet sein.

Bis dahin muss also der vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron in die Welt gesetzte Begriff der „europäischen Souveränität“ mit Leben gefüllt werden. Denn eines ist klar: Putin mag den Krieg in der Ukraine gewinnen oder verlieren. Doch auch unabhängig von ihm gibt es genügend Bedrohungen in der Welt, die wir als Europäerinnen und Europäer nur gemeinsam werden bewältigen können.

Deutsche Ukraine-Politik – Ein Versagen in Reinform

Er ist zweifellos der gefährlichste Konflikt in Europa, und zudem einer der brisantesten in der aktuellen geopolitischen Lage: der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine, der mit dem Aufmarsch von über 100.000 russischen Soldaten an der ukrainischen Grenze in eine neue akute Phase eingetreten ist. Deutschland spielt als eines der wichtigsten Länder in der EU und in der NATO eine besondere Rolle in diesem Konflikt. Doch leider versagt die deutsche Außenpolitik derzeit dabei, den drohenden Krieg abzuwenden und Sicherheit und Frieden auf dem europäischen Kontinent sicherzustellen. Wolfgang Ischinger, einer der erfahrensten deutschen Diplomaten und Chef der Münchener Sicherheitskonferenz, drückt die deutsche Blamage treffend in einem Tweet aus:

In diesem Artikel möchte ich zunächst skizzieren, weshalb die deutsche Ukraine-Politik so fatal ist. Anschließend werde ich mich mit den Folgen dieser Politik auseinandersetzen, bevor ich schließlich beschreibe, wie unsere Außenpolitik in der Ukraine-Frage künftig aussehen muss.

1. Die Defizite der deutschen Ukraine-Politik

Es ist ja richtig: Die Ukraine ist weder Mitglied der NATO noch der EU. Trotzdem ist Deutschland insbesondere aufgrund der geografischen Nähe, seiner Geschichte, eigenen Interessen sowie der eindeutigen Verteilung von Täter- und Opferrollen in diesem Konflikt moralisch und strategisch dazu verpflichtet, der Ukraine in ihrer Auseinandersetzung mit dem Aggressor Russland beizustehen. Doch von echter, über Lippenbekenntnisse und das typisch-deutsche unvermeidliche „Zeichen setzen“ hinausgehender Solidarität mit der Ukraine gibt es kaum eine Spur. Stattdessen tut Deutschland gerade vieles, um die Position der Ukraine zu schwächen und diejenige Russlands zu stärken:

a) Die Inbetriebnahme der unsäglichen Gaspipeline Nord Stream II (eine ausführliche Auseinandersetzung meinerseits mit der Pipeline hier) ist immer noch nicht ausgeschlossen worden. Die Pipeline ist ein hervorragendes Druckmittel der russischen Regierung, um Polen und die Ukraine als Transitländer für Erdgas auszuschalten oder diesen Ländern gar komplett des Gashahn abzudrehen.

Außenministerin Annalena Baerbock (2021)
Quelle: Sandro Halank / CC BY SA 4.0

b) Außenministerin Annalena Baerbock hat ebenso wie andere deutsche Stellen wiederholt die Lieferung dringend benötigter Verteidigungswaffen an die Ukraine abgelehnt. Dabei berufen Baerbock und Andere sich auf die „schwierige deutsche Geschichte“, womit Deutschlands Verbrechen während des Zweiten Weltkrieges gemeint sein sollen. Ein offensichtlicheres Herausmogeln aus historischer Verantwortung hat man selten erlebt. Im Klartext bedeutet die offizielle deutsche Haltung nämlich Folgendes: Im Zweiten Weltkrieg haben die Deutschen unter anderem die Ukraine (damals Teilstaat der Sowjetunion) völkerrechtswidrig überfallen und verwüstet. Daraus ziehen wir heute die Lehre, der Ukraine keine deutschen Waffen zu liefern, um sich gegen eine völkerrechtswidrige Aggression zu verteidigen. Mit Verlaub, eine solche idiotische Logik kann man niemandem mehr erklären! Zudem ist dies eine Verhöhnung der rund acht Millionen ukrainischen Opfer des Zweiten Weltkrieges (gemessen an der Bevölkerungszahl hat die Ukraine übrigens weit mehr Menschen im Weltkrieg verloren als Russland).
Auch das – schon aus anderen Konflikten bekannte – deutsche Mantra „es gibt keine militärische Lösung“ verdeutlicht das Nichtwahrhabenwollen führender deutscher Akteurinnen. Schon Angela Merkel brachte diesen heiteren Sinnspruch immer wieder, und Annalena Baerbock tut es ihr nun gleich. Dabei gibt es selbstverständlich eine militärische Lösung in diesem Konflikt, nur halt nicht in unserem Sinne! Und die sieht so aus: Russland greift die Ukraine an, besetzt das Land, fertig. Der Konflikt ist dann „militärisch gelöst“, schlichtweg weil eine der Konfliktparteien nicht mehr existiert. So ähnlich lief es schon in Georgien und Syrien.

c) Nicht erst seit Beginn der aktuellen Zuspitzung, sondern schon seit Jahren beobachte ich ein ahistorisches, von geschichtlicher und außenpolitischer Unkenntnis zeugendes Appeasement gegenüber Putin seitens diverser Vertreter der deutscher Eliten. Der irrlichternde Admiral Kay-Achim Schönbach und seine verheerenden Aussagen bei seinem Indien-Trip sind da nur das jüngste Beispiel. Stefan Kornelius bezeichnete Schönbach dafür zu Recht als „das Gesicht der deutschen Ukraine-Verwirrung“ (SZ vom 24. Januar 2022, Seite 4). Älter, und schlimmer, ist die ambivalente Haltung vieler Vertreter aus allen Parteien.
So hat sich der neue CDU-Chef Friedrich Merz gegen einen wirksamen Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-System ausgesprochen. Der Ex-Aufsichtsratsvorsitzende von BlackRock Deutschland hat damit als einer von vielen deutschen Politikern Wirtschaftsinteressen öffentlich den Vorzug gegenüber der internationalen Solidarität mit der Ukraine gegeben. Auch der gewohnt wankelmütige CSU-Chef Markus Söder sprach sich gegen harte Sanktionen aus, will Nord Stream II öffnen und bezeichnete Russland allen Ernstes lediglich als „schwierigen Partner“ der EU. Mit AfD und Linkspartei sitzen ferner zwei Fraktionen im Bundestag, die außenpolitisch komplette Totalausfälle sind, wie nicht nur die russlandpolitischen Einlassungen von Leuten wie Klaus Ernst und Alexander Gauland zeigen. Ein besonderes Problem habe ich leider auch mit der Außen- und Russlandpolitik von Teilen meiner eigenen Partei, der SPD. Die Haltung (zu) vieler führender Sozialdemokraten kann ich nur als äußerst schwierig bezeichnen. Sie verdient aber ein eigenes Unterkapitel.

d) In der SPD gibt es seit Jahren eine zu beobachtende russlandfreundliche Tendenz. Dies wäre nicht weiter schlimm, wäre die russische Regierung unter Wladimir Putin nicht ständig dabei, weite Teile Osteuropas und anderer Weltgegenden (Georgien, Libyen, Syrien, Mali etc.) zu destabilisieren. Besonders auffällig geworden sind in dieser Sache etwa Kevin Kühnert, Ralf Stegner und Matthias Platzeck. Die Einstellung dieser und manch anderer SPD-Mitglieder fußt dabei meiner Einschätzung nach auf drei Fundamenten:

Erstens: SPD-Altkanzler Gerhard Schröder ist Aufsichtsratsvorsitzender der Nord Stream AG. Schröder ist damit, bei allen Verdiensten, die er als Kanzler hatte, leider längst Lobbyist in russischen Diensten. Seine jüngsten Äußerungen und Warnungen vor ukrainischem „Säbelrasseln“ verdeutlichen diese traurige Tatsache. Die nach wie vor vorhandene persönliche Bindung mancher führender SPD-Mitglieder an Schröder manifestiert sich offenbar auch in einer oft unkritischen Haltung gegenüber der russischen Regierung.

Gerhard Schröder mit seinem Brötchengeber Wladimir Putin (2005)
Quelle: Kreml / CC BY 3.0
  • Zweitens: In der SPD gibt es eine wichtige, wenn auch sich in der Minderheit befindende Traditionslinie des Pazifismus. Pazifismus als solcher ist ja auch zutiefst ehrenwert. Doch leider lehrt uns die Welt, dass Pazifismus Grenzen hat: Wenn Menschen oder Staaten Opfer unprovozierter Aggression werden, wenn Potentaten wie Putin tausende Menschen töten lassen, um Macht zu gewinnen, darf man nicht wegschauen. Notwehr – sei es ökonomisch, sei es militärisch – ist dann leider geboten. Das heißt keineswegs, dass man ständig überall intervenieren sollte. Bloß nicht! Doch sollten potenzielle Aggressoren zumindest mit Widerstand rechnen müssen. Noch besser ist es freilich, so stark zu sein, dass aggressive Mächte gar nicht erst in die Versuchung kommen, sich aufzuspielen. In der SPD ist diese Einsicht aber leider noch nicht bei jedem angekommen. Sozialdemokratische Außenpolitik geht daher oft leider auf Kosten der internationalen Solidarität mit unseren osteuropäischen Freunden – und damit auch auf Kosten eines anderen wichtigen Grundwertes der deutschen Sozialdemokratie (siehe SPD-Grundsatzprogramm, Seite 19).
  • Drittens: Immer wieder sprechen manche Sozialdemokraten öffentlich davon, die „Neue Ostpolitik“ Willy Brandts wiederzubeleben. Dies wäre tatsächlich keine schlechte Idee, nur leider vergessen diejenigen, die dies fordern, oft zentrale Aspekte dieser Ostpolitik. So war es eine unverzichtbare Grundlage der Ostpolitik der 1970er Jahre, dass Deutschland aus einer Position der Stärke heraus verhandelt hat. Konkret stieg unter Willy Brandt trotz erheblichen Wirtschaftswachstums der Anteil der Verteidigungsausgaben am BIP von 3,6 % auf 4,0 %. Der ehemalige verteidigungspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Fritz Felgentreu, hatte schon Ende 2019 darauf hingewiesen. Leider gehört er heute nicht mehr dem Bundestag an (weitere positive Ausnahmen unter den SPD-Außenpolitikern sind etwa die Abgeordneten Nils Schmid und Michael Roth. Ich hoffe sehr, dass ihre und meine Position sich durchsetzt). Diese Stärke war Grundvoraussetzung dafür, von der sowjetischen Führung ernstgenommen zu werden. Außerdem wird oft vergessen, dass die Sowjetunion sich ohnehin keinen Krieg mit der NATO hätte erlauben können – dieser hätte aus bekannten Gründen schließlich das Ende der Welt bedeutet. Doch Russlands Nachbarn (besser: Opfer) wie Georgien und die Ukraine gehören eben nicht der NATO an. Sie sind leichte Beute, und ein Krieg gegen diese Staaten bedeutet aus russischer Sicht eben keine Apokalypse, sondern ein lohnenswertes Unterfangen. Zumindest, solange der Westen nicht angemessen reagiert. Als Historiker bin ich immer dafür, aus der Geschichte zu lernen. Allerdings müssen historische Vergleiche schon ein vollständiges Bild zeichnen und nicht dazu dienen, die Realität zu verzerren oder platte Gleichsetzungen ohne Berücksichtigungen von Unterschieden und historischem Kontext vorzunehmen.
Willy Brandt (1980)
Quelle: Bundesarchiv / CC BY SA 3.0

2. Die Folgen unserer Politik

Damit wären wir bei den schwerwiegenden Folgen der unsäglichen deutschen Politik im Ukraine-Konflikt. Glücklicherweise, muss man sagen, wird Deutschlands Ausfall ein Stück weit kompensiert durch die aktive und entschlossenere Haltung, die etwa die polnische, die britische und die US-amerikanische Regierung einnehmen. Doch selbst diese einflussreichen Staaten können das deutsche Versagen nicht vollständig ausgleichen. Konkret hat die deutsche Außenpolitik, die in wesentlichen Elementen schon unter Angela Merkel so betrieben wurde, nämlich nur eine Folge: Ein Krieg Russlands gegen die Ukraine wird durch sie wahrscheinlicher. Bei SWIFT wird gezaudert. Bei Nord Stream II wird gezögert. Und der Ukraine werden deutsche Waffenlieferungen vorenthalten (selbst dann, wenn es nur um aus Deutschland stammende Waffen geht). Dadurch kann sich die Ukraine schlechter verteidigen und wird zu einem attraktiveren Ziel für Putin.

Einmal mehr zeigt sich, dass Kriege in der Regel nicht aus Rüstungswettläufen entstehen, sondern wenn eine militärisch starke expansive Macht wie Russland auf deutlich schwächere Opfer wie die Ukraine trifft. Und dass die russische Regierung die Ukraine bedroht, kann nicht ernsthaft bezweifelt werden. Sowohl Putins gruselig-geschichtsrevisionistisches Ukraine-Essay vom Sommer 2021 als auch die aggressiv-einseitige Berichterstattung des Kreml-Senders Russia Today machen klar, dass die Ukraine auf Putins Abschlussliste steht. An dieser Stelle muss daran erinnert werden: Putin ist zweisprachig. Er versteht die Sprache der Macht und die der Gewalt. Wer den Gebrauch der letzteren nicht provozieren will, muss daher die Sprache der Macht lernen, um sich Putin verständlich zu machen. Der russische Präsident sieht im Untergang der Sowjetunion „die größte geopolitische Katstrophe des 20. Jahrhunderts“ und positioniert Russland als revisionistische Macht, die nach eigenem Ermessen die Grenzen verschiebt und schwächere Staaten zerstört oder in ihre Abhängigkeit treibt.

Neben den unmittelbaren Folgen drohen aber auch langfristige Nachteile für Deutschland: Nicht nur die russische, sondern auch die chinesische Regierung werden sich das deutsche Verhalten merken. Sie wissen nun: Mit Deutschland müssen sie nicht rechnen, egal ob Russland die Ukraine attackiert oder China eines Tages Taiwan angreift. Zudem schwächt und spaltet Deutschland die EU sowie die NATO und macht sich so bei seinen osteuropäischen Verbündeten, aber auch bei Briten und US-Amerikanern unmöglich. Wie Wolfgang Ischinger völlig richtig analysiert, gibt unsere Außenpolitik den baltischen Staaten, Polen, Rumänien und anderen null Anlass, an eine gemeinsame europäische Armee und Außenpolitik zu glauben. Die Regierungen Russlands und Chinas, des Iran und Nordkoreas lachen sich angesichts dieser deutschen und europäischen Tollpatschigkeit völlig zu Recht ins Fäustchen.

3. Fazit: Was zu tun ist

Es ist deutlich geworden, dass die deutsche Ukraine-Politik in eine Sackgasse führt. Unsere handelnden Politikerinnen und Politiker müssen dringend umschwenken. Die Ukraine braucht keine fruchtlosen Appelle, sondern konkreten Beistand in Form von Waffen, Ausrüstung, Geld und einem realistischen Pfad zur Mitgliedschaft in EU und NATO. Sollte Russland die Ukraine tatsächlich angreifen, muss Russland aus dem SWIFT-System fliegen, auch wenn es deutsche Handelsinteressen tangiert. Nord Stream II muss ein Ende finden, und zwar auch dann, wenn die maximale Eskalation diesmal ausbleibt. Schließlich gilt es, den russischen Staat nicht unnötig mit Euros zu mästen, die er dann wieder in die Rüstung stecken kann. Die Energiewende hat eben nicht nur klimapolitische, sondern auch strategische Implikationen.

Glücklicherweise bin ich mit meiner Haltung nicht alleine. Dies gilt auch für die SPD. Sowohl bei persönlichen Treffen mit anderen SPD-Mitgliedern als auch in sozialen Medien sehe ich, dass insbesondere jüngere Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten die Politik der Parteispitze kritisch sehen und sich mehr Unterstützung für die Ukraine wünschen. Auch ist eine realistische Haltung zur Europa-, Außen- und Sicherheitspolitik anders als früher vor allem unter jungen SPD‑Mitgliedern weit verbreitet. Das gibt mir Hoffnung. In diesem Sinne wünsche ich mir, dass sich die SPD-Spitze besinnt, sich an Willy Brandts erfolgreicher Außenpolitik orientiert, eine realistische Sicherheitspolitik betreibt und der Ukraine in ihrem Konflikt mit Russland entschlossen beisteht.

So können wir gemeinsam arbeiten für den Frieden. Denn in einem sind wir uns in der SPD einig:

„Der Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne den Frieden nichts.“

Willy Brandt

Ein Gordischer Knoten namens Nord Stream 2

Weshalb wird so emotional, so aggressiv und teils drohend über eine Pipeline gesprochen, die beinahe vollendet ist? Eines scheint festzustehen: Welchen Ausgang die Geschichte auch nimmt, viele mächtige und einflussreiche Leute werden am Ende in die Röhre gucken.

Die Röhre

Derzeit ist sie mal wieder in aller Munde, die vielleicht umstrittenste Pipeline aller Zeiten. Nord Stream 2 sollte einst Erdgas von Russland durch die Ostsee auf direkten Weg nach Deutschland transportieren (siehe Karte).

Quelle: Samuel Bailey / CC BY 3.0 / Keine Änderungen vorgenommen

Der Amtsantritt der neuen US-Regierung, die Gründung einer ominösen „Umweltstiftung“ durch die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern und die Festnahme des russischen Oppositionellen Alexei Nawalny bilden nun drei nur scheinbar voneinander unabhängige Anlässe, die die Debatte um das Projekt neu anheizen. Kurz gesagt geht es dabei um die Frage, ob man die Pipeline, die zu rund 98 % fertiggestellt ist, vollenden oder den Bau einstellen soll. Die Debatte über die Pipeline ist sehr international und sehr emotional. Dabei stehen sich zwei sehr heterogene Gruppen gegenüber:

Die Frontstellung

1.) Die Befürworter: Zu diesen gehören der größere Teil der Bundesregierung einschließlich Kanzlerin Angela Merkel, die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern um Ministerpräsidentin Manuela Schwesig, die russische Regierung, die örtliche Gaswirtschaft im Nordosten sowie der russische Konzern Gazprom. Außerdem wird Nord Stream 2 von Mitgliedern aus allen Bundestagsparteien gestützt, wobei die Linke und die AfD die einhelligsten Unterstützter sind. Union und SPD sowie Grüne und FDP sind gespalten.

2.) Die Gegner: Ähnlich bunt aufgestellt ist die Gruppe der Projektgegner. Wichtigster Gegner dürfte die US-Regierung sein, und zwar die alte ebenso wie die neue unter Präsident Joe Biden. Auch mehrere osteuropäische Regierungen – speziell die der Ukraine sowie Polens und der baltischen Staaten – lehnen die Pipeline ab. Die EU-Kommission sieht das Projekt ebenfalls kritisch. In Deutschland selbst sind es vor allem Umwelt- und Klimaschützer um „Fridays for Future“, Greenpeace und den Nabu, die sich gegen Nord Stream 2 stellen. Hinzu kommen ebenso wie bei den Befürwortern kritische Stimmen aus allen deutschen Parteien (mit Ausnahme der AfD und der Linken). Nennenswert sind hier etwa der CDU-Außenpolitiker und frisch verhinderte Parteichef Norbert Röttgen sowie der Grünen-Chef Robert Habeck. Eine gute, immer noch aktuelle Übersicht über die deutsche Gemengelage in Sachen Nord Stream 2 bietet dieser SZ-Artikel aus dem September 2020.

Die Argumente und Interessen

Doch warum ist die Lage so vertrackt? Weshalb wird so emotional, so aggressiv und teils drohend über eine Pipeline gesprochen, die wie beschrieben beinahe vollendet ist? Eines scheint festzustehen: Welchen Ausgang die Geschichte auch nimmt, viele mächtige und einflussreiche Leute werden am Ende – man verzeihe mir den Kalauer – in die Röhre gucken.

Derweil steht eines fest: Die jahrelang wiederholte Behauptung von Kanzlerin Merkel, bei Nord Stream 2 handele es sich um „ein rein wirtschaftliches Projekt“, war und ist eine denkbar naive Aussage. Das Projekt ist kein rein wirtschaftliches, und das war es auch nie. Vielmehr hatte das Projekt von Anfang an absehbare politische Folgewirkungen. Und diese sind es auch, die es so umstritten machen. Gehen wir die Interessenlage und die vorgebrachten Argumente doch einmal durch:

  • Geld: Mit Erdgas lässt sich viel Geld verdienen. Der russische Konzern Gazprom hat ab 2010 die erste Röhre durch die Ostsee gelegt (Nord Stream 1) und sich eine goldene Nase mit dem Gas verdient. Auch für die lokale Wirtschaft in Vorpommern ist die Röhre wichtig: Vor allem die Städte Sassnitz (Fährhafen) und Greifswald (Ankunftsort der Pipeline) profitieren stark von Nord Stream. Auf der anderen Seite würden US-Energiekonzerne ihr aus Fracking gewonnenes Flüssiggas gerne nach Europa exportieren. Dafür gibt es aber kaum Bedarf, wenn schon die Russen genug Gas liefern. Entsprechend sind auch viele Leute in Wilhelmshaven und Brunsbüttel, wo derzeit Flüssiggasterminals geplant werden, sehr an einem Scheitern von Nord Stream 2 interessiert.
Der damalige russische Präsident Dmitri Medwedew im Jahr 2010 bei der Zeremonie zum Baubeginn des Unterwasserabschnitts der Nord-Stream 1-Gaspipeline (Quelle: Pressebüro des Kreml / CC BY 3.0 / Keine Änderungen vorgenommen)
  • Die „kleine Politik“ oder: Der Faktor Ostdeutschland: Wie eben beschrieben wäre Nord Stream 2 für Mecklenburg-Vorpommern ein ökonomischer „Boost“. Die Pipeline schafft gut bezahlte Arbeitsplätze, die im strukturschwachen Osten rar sind. Würde das Projekt eingestellt, würden viele Hoffnungen zerbersten. Dies würde bei den Betroffenen einmal mehr das Gefühl auslösen, dass ihre ostdeutschen Interessen in der Bunderepublik nichts zählen. Ein neuer Opfermythos, diesmal durchaus begründet, könnte die eine Folge, noch mehr Stimmen für die AfD die andere Folge sein. Hinzu kommt: Ohnehin vertrauen viele Ostdeutsche schon länger eher der russischen als der eigenen Regierung. Die Entfremdung zwischen Ostdeutschen und dem Staat könnte bei einem Stopp für Nord Stream 2 also nochmal wachsen.
  • Die „große Politik“: Nord Stream 2 würde es ermöglichen, noch mehr russisches Gas ohne Umweg über Polen, die Ukraine und das Baltikum direkt nach Mitteleuropa zu transportieren. Entsprechend fürchten die bisherigen Transitländer zum einen um ihre Einnahmen, zum anderen um ihre Unabhängigkeit. Denn wenn ihre Pipelines nur noch sie selbst versorgen, könnte der russischen Regierung ein attraktives Drohpotenzial zur Erpressung dieser Länder zur Verfügung stehen. Und Konflikte zwischen Russen und Osteuropäern gibt es reichlich, die Ostukraine und die Krim lassen grüßen. Aus diesem Grund sieht auch die EU-Kommission das Vorhaben kritisch, auch wenn sie einst zähneknirschend das Projekt genehmigt hat. Die russische und die deutsche Regierung sind dagegen aus offensichtlichen Gründen für das Projekt, die Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern sowieso. Richtig kernig wurde die Auseinandersetzung aber erst, als sich ab 2017 die USA für die Pipeline zu interessieren begonnen haben. Sowohl die Trump- wie auch die Biden-Administration sehen die Röhre kritisch, weil sie fürchten, Deutschland könnte sich von Russland energiepolitisch abhängig machen. Der gemeinsamen Arbeit in der NATO wäre das ihrer Ansicht nach abträglich. Im Extremfall, so fürchtet man wohl, könnte Deutschland zum „freien Radikal“ in Europa werden, das in den globalen Streitfragen mal mit den USA, mal mit Russland gemeinsame Sache macht. Auch deshalb hat der US-Kongress aggressive Sanktionen gegen die an dem Projekt beteiligten Firmen veranlasst. Diese führten Anfang 2020 gar zu einem bis heute anhaltenden Baustopp.

In der Zwickmühle

Für die deutsche Politik erwächst vor allem aus den US-Sanktionen ein Dilemma: Entweder sie beugt sich dem Druck und stellt das Projekt ein. Dann werden nicht nur die Befürworter der Pipeline massiv enttäuscht sein, sondern es droht auch ein Konflikt mit Russland und ein nationaler wie internationaler Prestigeverlust nach dem Motto: „Ihr feigen Schwächlinge habt euch mal wieder den Amis gebeugt“. Ignoriert sie dagegen die Sanktionen oder verhängt gar Gegensanktionen, riskiert sie die erhoffte gute Beziehung zur neuen US-Regierung und spaltet die EU weiter.

Alle Akteure haben demnach viel zu verlieren in diesem Großkonflikt. Gesucht wird also ein Ausweg, bei dem alle Beteiligten ihr Gesicht wahren können. Ich glaube, ein solcher Ausweg existiert, auch wenn er den Beteiligten etwas Kreativität und einen letzten Rest an gegenseitigem Vertrauen abverlangt.

Nord Stream 2: Die Lösung

Die Pipeline wird nicht zu Ende gebaut. Oder sie wird zu Ende gebaut, dann aber nicht genutzt. Egal. Der Punkt ist: Durch Nord Stream 2 wird kein einziger Kubikmeter Erdgas nach Deutschland fließen. Um dieses Ergebnis zu erreichen und trotzdem keinen der Beteiligten zu vergrämen, ist es jedoch notwendig, ein kleines Schauspiel aufzuführen. Das Ziel: Alle Akteure, Befürworter wie Gegner der Pipeline, sollen ihr Gesicht wahren können.

Zuerst müssen die Bundesregierung und die US-Regierung sich zusammensetzen und einen Deal vereinbaren. Dieser Deal sähe wie folgt aus: Die Bundesregierung versichert den USA in Geheimgesprächen, Nord Stream 2 aufzugeben – aber erst einige Wochen oder Monate nachdem die USA ihre Sanktionen beendet haben. Da in den USA selbst derzeit ganz andere Themen dominieren, wird es für diesen Schritt kaum nennenswerte öffentliche Aufmerksamkeit geben, die Kritik sich in Grenzen halten und den Durchschnittsamerikaner nicht interessieren. Für Biden ist das Risiko daher gering. In Deutschland kann sich derweil die CDU-geführte Bundesregierung im Wahljahr feiern lassen für ihre Durchsetzungskraft gegenüber den „Amis“.

In der Zwischenzeit – und natürlich in der Folge der Sanktionsaufgabe – geht der Protest von Umweltschützern gegen das Projekt weiter und intensiviert sich (und ließe sich vielleicht auf dem einen oder anderen Wege noch ein wenig anstacheln…). Zum mit den USA vereinbarten Zeitpunkt, wenn möglich gar erst nach der Bundestagswahl im Herbst, gibt die neue Bundesregierung (mit großer Wahrscheinlichkeit schwarz-grün) bekannt, aufgrund der massiven Bedenken wegen des Klimaschutzes und aufgrund des Drängens der Grünen Nord Stream 2 aufzugeben. Als weitere Begründungen könnten noch die russische Außenpolitik und der Umgang mit Oppositionellen wie Alexei Nawalny genannt werden. Trotzdem sagt Deutschland zugleich zu, weiter Gas über Nord Stream 1 zu beziehen und mit den Russen auch weiterhin beim Betrieb dieser ersten Röhre zusammenzuarbeiten.

Zeitgleich mit dem für die allermeisten Leute überraschenden Ende der Pipeline legt die Bundesregierung zudem ein großes Infrastrukturprogramm für Vorpommern auf. Sie pumpt Milliarden in Umgehungsstraßen und Spaßbäder und siedelt vor allem mehrere der längst versprochenen Bundesbehörden in der Region an. Die Landesregierung grummelt kurz, sieht dann aber ein, dass der Deal kein schlechter ist.

Das Ergebnis? Im Nordosten entstehen auch ohne neue Pipeline neue Arbeitsplätze, die Ostdeutschen fühlen sich ausnahmsweise einmal fair behandelt. Das Verhältnis zu den USA bessert sich deutlich, ohne in der Öffentlichkeit vor den USA einknicken zu müssen. Die osteuropäischen Staaten sind Deutschland unendlich dankbar, die Spaltung der EU zumindest in dieser Frage aufgelöst. Die Klimabewegung kann einen weiteren Erfolg verbuchen, die neue Bundesregierung hat einen guten Start. Lediglich die russische Regierung wäre wohl nicht erfreut. Allerdings hat das Projekt aus russischer Sicht ohnehin an Wichtigkeit verloren und auch Putin weiß, dass der Verkauf von Erdgas in Zeiten der Erderhitzung kein langfristiges Geschäftsmodell mehr ist. Aus demselben Grund wird wohl auch trotz des Endes von Nord Stream 2 nur wenig US-Flüssiggas in Deutschland ankommen. Auf diesem Wege hätte man einen internationalen Großkonflikt friedlich und ziemlich einvernehmlich beigelegt, ohne es sich mit einem der Akteure dauerhaft zu verscherzen.

Nord Stream 2: Fazit

Ob das hier skizzierte Szenario so eintritt, kann niemand vorhersagen. Zugegeben, es verlangt allen Beteiligten gegenseitiges Vertrauen und eine gute Portion Chuzpe ab. Angesichts der verquasten Umstände wird es aber nötig sein, kreative und für alle Beteiligten gesichtswahrende Wege zu finden, Nord Stream 2 zu beerdigen. Der oben präsentierte Weg bietet sich dafür an.

Zum deutschen Wahlrecht – warum wir eine große Reform brauchen

Mit der sich abzeichnenden erneuten Pleite in Sachen Bundestagswahlrecht haben die Parteien CDU, CSU und SPD dem Ansehen des Bundestages und der Demokratie beim Thema Wahlrecht einmal mehr erheblichen Schaden zugefügt. Allen drei Parteien ging es mit ihren kaum ernst gemeinten „Kompromissvorschlägen“ der letzten Monate erkennbar nicht darum, ein neues, ausgeglichenes und faires Wahlrecht zu schaffen, sondern ausschließlich um ihren eigenen parteipolitischen Vorteil. So wird es nun vermutlich nicht einmal gelingen, wenigstens für die nächste Bundestagswahl vorübergehend ein neues Wahlrecht zu verabschieden, welches später dann grundlegender hätte verändert werden können. Somit bleibt es beim aktuell gültigen Wahlrecht, das wahrscheinlich schon bei der nächsten Wahl 2021 für eine Aufblähung des Bundestages auf bis zu 800 Sitze oder mehr sorgen wird. Dieser Zustand ist aus drei Gründen auf Dauer unhaltbar:

  • Erstens, weil zu viele Abgeordnete die Arbeitsfähigkeit des Bundestages reduzieren: Je mehr Abgeordnete in Ausschüssen und im Plenum sitzen, desto länger müssen die Redezeiten sein, desto mehr Büroräume (oder Container) werden gebraucht und desto schwieriger wird es, gute zwischenmenschliche Beziehungen zueinander aufzubauen, weil man sich ja auch mit so viel anderen Kolleginnen und Kollegen treffen könnte…
  • Zweitens, weil die zusätzlichen Abgeordneten die Steuerzahler viele Millionen Euro kosten: Diäten, Pauschalen, Reisekosten, Büros, Mitarbeiter usw. Jeder Abgeordnete kostet rund eine halbe Million Euro jährlich (Datengrundlage: Bund der Steuerzahler, eigene Berechnung). Ein Parlament mit 800 statt der vorgesehen rund 600 Abgeordneten würde uns also die stattliche Summe von von 100 Millionen Euro jedes Jahr zusätzlich kosten!
  • Drittens, und dies ist das wichtigste: Auch aus den beiden bereits genannten Gründen sehen viele Leute (der Verfasser dieser Zeilen eingeschlossen) das Scheitern der Wahlrechtsreform sowie den Bläh-Bundestag sehr kritisch. Bedauerlicherweise gibt nun die ganze Problematik den zahlreichen Extremisten, Demokratie-Feinden und anderen finsteren Zeitgenossen die ideale Gelegenheit, kräftig gegen das Parlament, die Parteien und die Demokratie insgesamt zu hetzen. Da ihre Angriffe aber durch das Scheitern der Reform auf einem wahren Kern beruhen – und dies ist immer schon die gefährlichste Art des pauschalisierenden Angriffes gewesen! – werden ihre Tiraden auf fruchtbaren Boden fallen und von genug Mitbürgerinnen und Mitbürgern aufgenommen werden. Für den schon seit vielen Jahren um seine Reputation kämpfenden Bundestag ist dies die denkbar schlechteste Entwicklung.

Doch wie könnten wir aus der Misere kommen? Zunächst ein paar Worte zum Status quo:

Das aktuelle Wahlrecht

Seit langer Zeit haben die Wählerinnen und Wähler bei Bundestagswahlen zwei Stimmen: Zum einen eine Erststimme, mit der sie eine Person auf dem Wahlzettel „direkt“ für den jeweiligen Wahlkreis in den Bundestag wählen. Derjenige Kandidat, der die meisten Stimmen in einem Wahlkreis auf sich vereint, erhält auf jeden Fall einen Sitz im Bundestag – egal, ob er zu einer Partei gehört und wenn ja, zu welcher. Auch sein oder ihr Stimmenvorsprung ist irrelevant. Ob man also mit 55 Prozent der Stimmen oder 25 Prozent der Stimmen gewählt wird, ist nicht entscheidend. Mit der Zweitstimme wählen die Wähler die Landesliste einer Partei. Erhält die Partei mehr als fünf Prozent der deutschlandweit abgegeben Stimmen, ziehen ihre Kandidaten in der Reihenfolge ihrer Listenplatzierung ins Parlament ein. Dabei werden jedoch die zuvor direkt gewählten Abgeordneten abgezogen. Erringt eine Partei also durch ihren Zweitstimmenanteil 60 Sitze und wurden bereits 43 ihrer Kandidaten direkt gewählt, ziehen nur noch 17 zusätzliche Listenbewerber ins Parlament ein. Und hier beginnen die Probleme.

Denn eine Partei kann mehr Direktmandate erringen als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis eigentlich zustünden. Die „überschüssigen“ Mandate nennt man „Überhangmandate“. Bei der letzten Bundestagswahl errangen etwa die CDU 36, die CSU sieben und die SPD drei Überhangmandate. Um nun aber das „eigentliche“ Wahlergebnis der Zweitstimmen nicht zu verfälschen, gibt es seit 2013 Ausgleichsmandate für diejenigen Parteien, die keine solchen Überhangmandate erhielten. Eigentlich eine gute, sinnvolle Sache. Denn die Zweitstimmen bilden wesentlich besser den Wählerwillen ab als die Erststimme, bei der ja alle Stimmen der unterlegenen Kandidaten unter den Tisch fallen. Das Problem: Um neben dem Mandatsverhältnis zwischen den Parteien auch jenes zwischen den Bundesländern zu erhalten, müssen zusätzlich weitere Ausgleichsmandate vergeben werden, um nicht den lustigen Föderalismus-Proporz aufzuweichen. Im Klartext: Es kann sein, dass wegen eines CSU-Überhangmandats in Bayern zunächst die SPD in Nordrhein-Westfalen ein Ausgleichsmandat bekommt. Weil nun aber Bayern und NRW übermäßig im Bundestag vertreten sind, gibt es nun noch ein Mandat für die FDP in Hessen. Weil nun aber die FDP zu stark vertreten ist, brauchen die Grünen in Hamburg und die AfD in Sachsen auch noch ein Mandat. Und immer so weiter, bis sich eine regelrechte Kaskade aus Überhangs- und Ausgleichsmandaten entwickelt.

Dieser Irrsinn hat dazu geführt, dass bei der Bundestagswahl 2013 gerade einmal vier Überhangmandate, alle für die CDU, ganze 29 (!) Ausgleichsmandate nach sich zogen. Am Ende bekam die CDU für ihre eigenen vier Überhangmandate auch noch 13 Ausgleichsmandate – weil ja sonst alle Bundesländer ohne Überhangmandate benachteiligt gewesen wären! Doch trotz dieser offensichtlichen Idiotie sind alle heutigen Reformvorschläge geplatzt: Eine Verringerung der Wahlkreise wird vor allem von CSU und SPD abgelehnt, ein Beschneiden der Ausgleichsmandate von den kleineren Parteien. Vermutlich wollen alle Beteiligten einfach nicht riskieren, ihre eigenen Mandate oder die ihrer Parteikollegen dadurch zu verlieren, dass der Bundestag durch eine Reform am Ende wirklich spürbar kleiner wird. Was es also braucht, ist eine echte, radikale Reform, die das Problem an der Wurzel packt.

Mein Reformvorschlag

Ich gebe zu: Was folgt, ist ziemlich radikal. Und ungewöhnlich. Aber meine Auffassung ist es, dass wir in der vertrackten Lage, in der wir uns befinden, dringend innovative und dauerhafte Lösungen brauchen. Zugleich ist mein Vorschlag, den ich außerhalb dieses Blogs schon seit Längerem in Diskussionen vertrete, auch eine Chance, unser Wahlrecht grundsätzlich zu entschlacken und demokratischer zu machen. Mein Vorschlag ist dabei zwar wie gesagt radikal, aber simpel. Er besteht aus drei Komponenten:

  • 1.) Abschaffung der Wahlkreise
  • 2.) Öffnung der Landeslisten
  • 3.) Einführung eines Familienwahlrechts

Damit verfolge ich wiederum drei Ziele:

  • 1.) Demokratisierung des Wahlrechts
  • 2.) Vereinfachung des Wahlrechts
  • 3.) Erhaltung der Arbeitsfähigkeit des Bundestages

Doch wie genau tragen nun die drei Komponenten meiner Reformidee zur Erreichung der drei Ziele bei?

1.) Die Abschaffung der Wahlkreise

Konkret soll folgendes passieren: Die Wahlkreise werden abgeschafft. Die häufig gehörte Begründung für ihre angebliche Wichtigkeit lautet, die Wählerinnen und Wähler würden sich mit ihrem direkt gewählten Abgeordneten identifizieren. Doch dies ist durch Studien hinreichend widerlegt. Tatsächlich kennt die Mehrheit der Bürger ihre regionalen Abgeordneten nicht. Einer Studie der Landeszentrale für politische Bildung aus NRW zufolge (siehe hier, Seite 22) kannten nur 46 Prozent der Befragten ihre Bundes- und Landtagsabgeordneten. Und dies dürfte, wie auch die Autorinnen und Autoren der Studie nahelegen, noch zu hoch gegriffen sein. Realistisch scheinen eher 30-35 Prozent zu sein. Dies ist auch einer der zwei Gründe, weswegen das ebenso radikale Gegenmodell zu meinem Vorschlag, nämlich eine Abschaffung der Listen zugunsten der Wahlkreise, nicht zielführend ist. Der andere Grund ist, dass in einem solchen System selbst fähige Kandidatinnen und Kandidaten keine Chance auf Einzug in den Bundestag hätten, wenn sie schlicht im „falschen“ Wahlkreis leben (als Grüner in Cloppenburg, als CDUler in Berlin-Kreuzberg usw.), in dem ihre Partei traditionell schwach abschneidet und sie so selbst bei einem überdurchschnittlichem Ergebnis nicht zum Zuge kämen.

2.) Offene Landeslisten

Tatsächlich wünschen sich aber viele Bürger eine verstärkte Personalisierung ihrer Wahlmöglichkeiten. Hier kommt die zweite Komponente zum Tragen: Obwohl, siehe oben, viele Menschen ihre regionalen Abgeordneten nicht kennen, sieht dies für Politiker insgesamt schon ganz anders aus. Viele Abgeordnete, auch „Nicht-Promis“, haben in bestimmten Bevölkerungsschichten ihre „Fans“, können von diesen aber im aktuellen Wahlrecht kaum gezielt unterstützt werden. Ein Beispiel: Eine Landwirtin aus Wittmund ist sehr zufrieden mit der agrarpolitischen Sprecherin einer bestimmten Partei und würde diese daher gerne unterstützen. Diese kommt aber aus Lüneburg. Unsere Landwirtin hat daher keine Chance, sie gezielt zu wählen: Auf der Landesliste ihrer Partei steht sie vielleicht weit unten, und Lüneburg ist ein ganz anderer Wahlkreis als Wittmund. Öffnete man nun aber die Landeslisten, könnte auch die Landwirtin aus Wittmund ihre bevorzugte Kandidatin aus Lüneburg unterstützen. Ähnlich wie bei einer Kommunalwahl würde nämlich nun hinter jedem Listenkandidaten ein Kreis gedruckt sein, auf dem die Wählerin ihr Kreuz setzen könnte. Auf diese Weise könnten wir auch die unglückliche Debatte über die Sinnhaftigkeit paritätisch zu besetzender Listen (siehe etwa hier) beenden: Wollen Wählerinnen und Wähler gezielt Frauen unterstützen, wären geöffnete Listen dazu die ideale Lösung. Der Einfachheit halber sollten wir aber auf Kumulieren und Panaschieren (also die Möglichkeit, drei oder mehr Stimmen auf mehrere Kandidaten zu verteilen) verzichten: Dies schaffte nur neues Chaos.

3.) Einführung des Familienwahlrechtes

Um das neue Wahlrecht zu vervollständigen, sollten wir zudem dringend über die Einführung eines Familienwahlrechts nachdenken. Tatsächlich ist das Versprechen des Grundgesetzes auf „allgemeine“ Wahlen (Art. 38, Abs. 1 GG) streng genommen nicht erfüllt worden. Kindern und Jugendlichen bleibt ihre Stimme verwehrt, die ihnen eigentlich zustünde. Natürlich ist klar, dass Babys oder (Klein-)Kinder aus naheliegenden Gründen noch nicht in der Lage sind, ihre Stimmen bei Wahlen selbst abzugeben oder sich auch nur eine fundierte Meinung über politische Zusammenhänge zu bilden. Für ihre Eltern, die die Last zusätzlicher Verantwortung für ihre Kinder zu schultern haben, gilt dies aber nicht. Und auch viele 16- und 17-Jährige, das haben nicht nur die jüngeren Ereignisse rund um die Klimaschutzproteste oder die Uploadfilter-Debatten gezeigt, sind politisch „reif genug“ zum Wählen. Zudem darf man schon mit 17 zur Bundeswehr, und auch anderswo arbeiten gehen (und somit Steuern und Abgaben zahlen) darf man schon als Jugendlicher – während umgekehrt einem 40-Jährigen, der nie gearbeitet hat, das Wahlrecht auch nicht entzogen wird. Das in Stammtischkreisen gelegentlich gehörte Gegenargument, das Wahlrecht solle auf Steuerzahlende beschränkt sein, zieht also schon heute nicht.

Wir sollten daher das aktive Wahlrecht auf 16 Jahre senken. Und, noch wichtiger, den Eltern jüngerer Kinder das Wahlrecht stellvertretend für letztere übertragen. Wie wäre dies zu bewerkstelligen? Relativ einfach ist es bei Alleinerziehenden mit alleinigem Sorgerecht: Hier erhält der Erziehungsberechtigte alle Stimmen für seine oder ihre Kinder. Bei Paaren mit geteiltem Sorgerecht (also im Regelfall) könnte man wie folgt vorgehen: Bei einer „geraden Kinderzahl“, also etwa zwei oder vier Kindern, teilen sich die Sorgeberechtigten die Stimmen auf: Jeder erhält eine weitere Stimme bei zwei Kindern unter 16 Jahren, jeder zwei Stimmen bei vier Kindern usw. Problematischer sind „ungerade Kinderzahlen“ bei geteiltem Sorgerecht. Hat ein Paar etwa drei Kinder, könnte zwar jeder Erziehungsberechtigte zunächst mal eine Stimme zusätzlich erhalten. Die dritte „Kindestimme“ bliebe aber übrig. Aber auch hier liegt eine gute Lösung auf der Hand: Es wird gelost. Hat ein (im Beispiel heterosexuelles) Paar etwa drei Kinder, erhalten Mutter und Vater je eine Stimme zusätzlich. Die dritte Stimme wird bei der Verlosung nun, sagen wir, zunächst dem Vater zugelost. Der erhält bei der nächsten Wahl also zwei Stimmzettel zusätzlich, die Mutter einen. Von da an wird dann immer gewechselt. Bei der übernächsten Wahl hat also die Mutter zwei Stimmen mehr, der Vater nur eine. Dann geht die dritte Zusatzstimme wieder zurück, und wieder hin, bis das Kind das 16. Lebensjahr vollendet hat und selbst wählen darf. Auf diese Weise ist ein faires, generationengerechtes und vor allem wirklich demokratisches Wahlrecht möglich. Denn wer kann heute noch allen Ernstes behaupten, ein kinderloses Doppelverdienerpaar mit hohem Einkommen sollte in unserer Demokratie mehr Stimmen bekommen als eine alleinerziehende Mutter, die die Last der Erziehung dreier Kleinkinder tragen muss und somit nebenbei die solidarische Rentenversicherung am Leben erhält? Ist dies wirklich fair? Eben.

Fazit

Drei Vorschläge, eine Stoßrichtung: Demokratischer, einfacher und die Arbeitsfähigkeit des Parlaments erhaltend soll das neue Wahlrecht sein. Letzteres wird gewährleistet, weil durch die Abschaffung einer der beiden Stimmen und der Wahlkreise das Problem der Überhang- und Ausgleichsmandate an der Wurzel gepackt und somit im Wortsinne radikal (von lat. „radix“ = Wurzel) gelöst wird. Die Zahl der Abgeordneten bleibt daher konstant. Es wird zudem einfacher zugehen, weil die Wählerinnen und Wähler nur noch eine Stimme haben und die Verwirrung über komplizierte Ausgleichsregelungen zwischen Parteien und Bundesländern der Vergangenheit angehören wird. Und schließlich – und dies ist das Wichtigste – kann der von mir unterbreitete Reformvorschlag durch das Familienwahlrecht und die offenen Listen unser Wahlrecht demokratisieren, den Wählerinnen und Wählern mehr Auswahl ermöglichen und endlich das Versprechen der allgemeinen Wahl erfüllen. Ich bin daher der festen Überzeugung, dass die hier erläuterten Maßnahmen der beste Weg sind, unser Wahlrecht grundlegend und dauerhaft zu reformieren. Unsere Demokratie sollte es uns wert sein.