Es ist Krieg in Europa. Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 beginnt eine neue Phase der europäischen Geschichte. Mit meiner Prognose vom Januar 2022, ein Krieg in der Ukraine sei sehr wahrscheinlich, habe ich leider Recht behalten. Das Wort von der „Zeitenwende“, welches Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bemüht, trifft diese Situation sehr gut. Denn mit dem Ukraine-Krieg gibt es zum ersten Mal seit 1939/45 einen klassischen zwischenstaatlichen Angriffskrieg in Europa. Ein solcher hat nicht nur theoretisch-völkerrechtlich, sondern auch praktisch-politisch eine andere Dimension als etwa die Bürgerkriegsinterventionen der 1990er Jahre auf dem Balkan. Aus diesem und vielen weiteren Gründen (siehe nächster Abschnitt) ist es auch legitim, dem Krieg in der Ukraine aus europäischer Sicht deutlich mehr Aufmerksamkeit zu schenken als den fürchterlichen Ereignissen in anderen Weltregionen.
Ukraine-Krieg: Der Stand der Dinge
Aktuell kann noch niemand mit Gewissheit sagen, wie der Ukraine-Krieg ausgehen wird. Verlässliche Infos über den Frontverlauf, militärische und zivile Verluste sowie den Zustand der Kriegsparteien sind schwer zu bekommen. Die meiner Einschätzung nach verlässlichsten Informationen teilen derzeit der britische Militärgeheimdienst sowie eine Reihe meist US-amerikanischer Militärjournalisten (etwa 1, 2, 3), die sich auf Open Source Intelligence (OSINT) spezialisiert haben. Die hier verlinkten Akteure sind allesamt auf Twitter aktiv. Da sich die Lage in der Ukraine häufig ändert, möchte ich hier indes nicht weiter darauf eingehen, sondern mich mit grundsätzlicheren Fragen befassen.
Unabhängig vom Verlauf des Krieges ist das derzeitige Ausmaß der internationalen Solidarität mit der Ukraine bemerkenswert. Aus aller Welt erreichen Waffen und Hilfslieferungen das Land. Polen und Ungarn, eben noch die Staaten mit einer eher ablehnenden Haltung zu Migration, nehmen Millionen ukrainischer Flüchtlinge auf (auch wenn ein rassistischer Aspekt bei der Unterscheidung zwischen „guten“ ukrainischen und „schlechten“ syrischen Flüchtlingen keineswegs zu leugnen ist). Auch in anderen europäischen Staaten wie Rumänien, der Slowakei und auch Deutschland werden viele hilfsbedürftige Menschen aufgenommen. Deutschland legt eine 180°-Wende in der Sicherheitspolitik hin. In vielen Städten weltweit gibt es Massendemonstrationen gegen Wladimir Putin und seinen verbrecherischen Angriffskrieg. All dies ist gut und zeigt, dass internationale Solidarität kein leeres Schlagwort ist. Doch dürften die langfristigen Folgen des Krieges noch deutlich mehr Aufmerksamkeit von uns erfordern.
Im Folgenden erläutere ich daher zunächst, warum der Ukraine-Krieg unsere besondere Aufmerksamkeit verlangt, gerade auch im Vergleich zu anderen Konflikten der jüngeren Zeit. Anschließend möchte ich wahrscheinliche Folgen des Krieges für die internationale Politik darlegen. Zum Abschluss und als Teil des Fazits werde ich dann einige Handlungsoptionen aus deutscher bzw. europäischer Sicht skizzieren.
Warum der Krieg in der Ukraine für uns so wichtig ist
Auch abseits der Flüchtlingsfrage (wo der Vorwurf, siehe oben, berechtigt ist) wird öffentlich von einigen Menschen argumentiert, die große Anteilnahme am Ukraine-Krieg im Vergleich zur geringeren Anteilnahme an anderen Konflikten zeige rassistische Einstellungen. Ich halte dieses Argument für falsch. Dass die Ukraine international und besonders in Europa und im „Westen“ generell mehr Aufmerksamkeit erhält als etwa die Bürgerkriege in Syrien, im Jemen und in Libyen, hat handfeste Gründe:
- Die Ukraine ist uns in Europa deutlich näher, die Auswirkungen der Kämpfe erreichen uns also früher und in stärkerer Form. Diese Nähe ist dabei nicht nur physisch, sondern auch psychologisch ein wichtiger Faktor.
- Es gibt mehr persönliche Verbindungen zwischen Ukrainern und Westeuropäern, daher ist die persönliche Anteilnahme logischerweise höher, insbesondere wenn es um eigene Familienmitglieder geht.
- Geostrategisch ist die Ukraine aus Sicht der EU- und NATO-Mitglieder ungleich bedeutsamer als etwa Syrien oder Jemen.
- Anders als in den meisten Bürgerkriegen gibt es im Ukraine-Krieg eine glasklare Aufteilung in Täter (Russland) und Opfer (Ukraine). Der Kampf „Gut gegen Böse“ wird noch verstärkt durch den Eindruck einer Auseinandersetzung „David gegen Goliath“. In Syrien beispielsweise wüsste man doch gar nicht, welche Konfliktpartei man als am verachtenswertesten einstufen sollte: Das Assad-Regime? Den IS? Die anderen islamistischen Rebellen? Die Zeiten, als die „Freie Syrische Armee“ westliche Sympathien genoss, sind längst vorbei. Denn diese einst halbwegs demokratisch gesinnte Rebellengruppe ist teils zerstört, teils zu den Islamisten übergelaufen. Ähnliche Schlussfolgerungen lassen sich auch in Mali, Libyen und Jemen ziehen.
- Vor allem aber handelt es sich beim Ukraine-Krieg um den ersten vollumfänglichen Angriffskrieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Und auch außerhalb Europas muss man für den jüngsten offenen zwischenstaatlichen Angriffskrieg fast 20 Jahre zurückgehen, nämlich bis zum Irak-Krieg des Jahres 2003. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist eindeutig völkerrechtswidrig und verstößt eklatant gegen Artikel 2 der UN-Charta. Dieser Artikel verbietet es den Mitgliedstaaten, Kriege gegen ihre Nachbarn zu führen.
All dies ändert nichts daran, dass die Menschen in Syrien oder Jemen genauso stark leiden wie die in der Ukraine. Zugleich ist klar, dass die russische Invasion der Ukraine eine neue Dimension internationaler Aggression, insbesondere auf europäischem Boden, darstellt. Doch welche Folgen hat der Konflikt schon jetzt und in Zukunft?
Die Folgen von Putins Angriffskrieg
Die Gute Nachricht zuerst: Wladimir Putin erreicht mit seinem Vernichtungsfeldzug gegen die Ukraine in allen Punkten das exakte Gegenteil dessen, was er sich vorher ausgerechnet hat:
Die Ukraine
Putin wollte die Ukraine mit einem Blitzkrieg-Feldzug „heim ins Reich“ holen. Doch dieser Versuch ist krachend gescheitert am Widerstand der ukrainischen Armee und des ukrainischen Volkes. Putin hat sich offenbar in seine eigene verlogene und historisch leicht widerlegbare Propaganda verrannt, die die Ukraine als „Nicht-Staat“ und ihre Bewohnerinnen und Bewohner als „Nicht-Volk“ verhöhnt. Doch die ukrainischen Streitkräfte leisten seit dem ersten Tag der Invasion den russischen Angreifern erbitterten Widerstand. Der Ukraine-Krieg dürfte lang und leider sehr blutig werden – für alle Beteiligten.
Auch wenn konkrete Zahlen dazu schwer zu bekommen und die Angaben der Konfliktparteien mit größter Vorsicht zu genießen sind, schält sich ungefähr folgendes Verhältnis heraus: Für jeden getöteten ukrainischen Soldaten sterben 1,5 bis 2 russische. Bei den Panzern, Fahrzeugen, Geschützen, Hubschraubern und Flugzeugen liegt die Verlustquote derzeit bei 1:3 bis 1:4. Und das sind nur die sicher dokumentierten Verluste. Fakt ist: Selbst wenn Russlands Armee diesen Krieg doch noch gewinnen sollte, wäre es ein klassischer Pyrrhussieg. Und dieser wird die Einsatzbereitschaft der russischen Armee auf Jahre hinaus deutlich reduzieren. Ganz zu schweigen von dem, was Russlands Armee blüht, wenn sie eine Besatzung der Ukraine organisieren müsste. Denn eines steht fest: Der Angriff auf das ukrainische „Brudervolk“ hat selbiges zu Putins und Russlands entschlossenstem Feind gemacht.
Bei der nachvollziehbaren Freude über das partielle russische Scheitern sollte man jedoch nicht denselben Fehler begehen wie die deutsche Regierung im Zweiten Weltkrieg. Nach dem Desaster, das die sowjetische Armee in Finnland 1939/40 erlebt hatte, wurde die Kampfkraft der Roten Armee chronisch unterschätzt. Dies war einer der Gründe für den verheerenden Entschluss Hitlers, 1941 die Sowjetunion anzugreifen. Nun plant im Westen zum Glück niemand einen NATO-Feldzug gegen Russland. Doch sollten wir uns nicht in falscher Sicherheit wiegen, nur weil die Russen in der Ukraine bisher so schwach auftreten. Die Ertüchtigung der europäischen Verteidigung bleibt richtig und wichtig, denn auch die Russen werden aus ihrem Ukraine-Desaster ihre Lehren ziehen.
Der Westen
Auch hier hat Putin sich verkalkuliert. Er rechnete offenbar mit einigen symbolischen Sanktionen, die nach seinem erwarteten schnellen Sieg rasch aufgehoben würden. Eine krasse Fehleinschätzung. Die Wirtschaftssanktionen, die die EU, die USA, Großbritannien und weitere Staaten gegen Russland verhängt haben, sprengen alles bisher Dagewesene. Noch nie in der Geschichte wurde eine Atom- und Großmacht mit derartigen Sanktionen belegt: Weitgehender Ausschluss aus dem Swift-System, Ende von Nord Stream 2, Exportverbote für Hightech-Güter, Rückzüge von Unternehmen, Kontosperrungen, eingefrorene Oligarchen-Vermögen, geschlossene Lufträume und, und, und.
Schon jetzt ist die russische Wirtschaft angeschlagen, der Rubel und die Exporte sind eingebrochen, das BIP könnte im zweiten Quartal um mehr als 35 % einbrechen. Die USA haben darüber hinaus bereits ein Ölembargo verhängt. Bei weiteren russischen Kriegsgräueln, etwa in Mariupol oder Charkiw, ist denkbar, dass sich die Europäer dem anschließen. Dies wäre der Todesstoß für die russische Ökonomie und den russischen Staat, der sich zu rund 43 % aus den Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft finanziert.
Zudem agiert der Westen geschlossen und koordiniert. Transatlantische Spaltung, Brexit, NATO-„Hirntod“, EU-Fehden: alles vergessen. Dies ist eines der wenigen erfreulichen Resultate dieses furchtbaren Krieges, der so viel menschliches Leid verursacht. Auch rüsten westliche Staaten, insbesondere europäische wie Deutschland, nun massiv auf: zwei Prozent jährlich für Verteidigung, 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr. Vor Kurzem hätte dies noch einen Aufschrei ausgelöst. Doch nun ist der Widerstand dagegen sehr begrenzt, weil die Menschen wissen, dass mit dem Ukraine-Krieg eine neue Zeit angebrochen ist. Und diese neue Zeit erfordert nun einmal neue Antworten, auch wenn diese nicht schön sind. Wichtig ist dabei, dass die NATO einerseits nicht überreagiert, andererseits sich aber auch aus der „Berechenbarkeitsfalle“ heraus bewegt, die ihr der britische Diplomat John Raine attestiert hat.
China
Der russische Präsident war sich auch hier sicher: China würde ihm nicht nur nicht in den Arm fallen, sondern seinen Feldzug gegen die Ukraine in der einen oder anderen Form unterstützen. Auch dies dürfte sich als Fehlschluss Putins herausstellen. Zwar gibt es zu Recht größeres Rätselraten im Westen über die teils widersprüchlichen Reaktionen (etwa die Enthaltung im UN-Sicherheitsrat) der chinesischen Regierung. Doch kann sich die chinesische Regierung, trotz aller öffentlichen Ambivalenz in ihren Äußerungen, kaum über die russische Invasion freuen. Und dies hat mehrere Gründe:
- Die Argumente Wladimir Putins vor und während des Einmarsches sind aus chinesischer Sicht verheerend. Putin sprach oft davon, in der Ostukraine finde ein „Völkermord“ an Russen statt. Dies rechtfertige ein Eingreifen in der Ukraine. Für Präsident Xi Jinping, der seit Jahren schon einen zumindest kulturellen Genozid an den Uiguren in Westchina durchführen lässt, ist dies eine fatale Argumentation. Denn setzt sich diese Rechtsauffassung völkerrechtlich und moralisch international durch, muss er selbst mit mehr Kritik und Sanktionen für seinen Umgang mit den Uiguren rechnen.
- Auch dass Putin die beiden Separatistengebiete Donezk und Luhansk als unabhängige Staaten anerkannt hat, ist für China ein Graus. Schließlich verurteilt die chinesische Regierung bei jeder Gelegenheit „separatistische Aktivitäten“. Dies ist meist auf Taiwan, aber auch auf Hongkong gemünzt. Dort will China durchgreifen, und insbesondere im Konflikt um Taiwan argumentiert Xi Jinping auch mit der territorialen Unverletzlichkeit der Grenzen. Tatsächlich wird Taiwan nur von wenigen Staaten anerkannt. Doch wenn China Putin seine proseparatistische Nummer durchgehen lässt, wird es argumentativ künftig eng für Peking.
- Die neue westliche Geschlossenheit und das Wiederaufblühen von EU und NATO ist auch für China schlecht. Denn es muss nun mit größerer westlicher Skepsis gegenüber Autokratien ebenso rechnen wie mit verstärkter Gegenwehr, sollte China sich expansiv und völkerrechtswidrig verhalten. Dies gilt etwa für chinesische Ambitionen in Taiwan, Hongkong und im Südchinesischen Meer.
- Schließlich ist Russland aufgrund der hohen militärischen Verluste und der wirtschaftlichen Sanktionen auf Jahre bis Jahrzehnte massiv geschwächt. Als Anfang 2022 China und Russland einen „Freundschaftsvertrag“ abschlossen, war die chinesische Regierung davon ausgegangen, einen mächtigen Verbündeten zu gewinnen. Doch unabhängig davon, ob die Chinesen über den Angriff auf die Ukraine informiert waren oder nicht: Der Ukraine-Krieg wird Russland schwächen. Und an schwachen Alliierten hat niemand ein Interesse. Wenn man es zuspitzen wollte, könnte man sogar einen interessanten historischen Vergleich ziehen: Wladimir Putin könnte machtpolitisch für Xi Jinping zunehmend das werden, was Benito Mussolini in den 1940er Jahren für Adolf Hitler wurde: Der dusselige Verbündete, der ständig neue Konfliktherde aufmacht, dort scheitert und dann den „großen Bruder“ (damals Deutschland, heute China) mit reinzieht. Und wie die „Männerfreundschaft“ zwischen Hitler und Mussolini ausgegangen ist, wissen wir ja…
Fazit
Putin hat seinen verbrecherischen Feldzug lange vorbereitet: Er hat seit Jahren giftige antiukrainische Propaganda verbreitet. Er hat seine Armee aufgerüstet. Er hat den Westen und insbesondere Deutschland mit dem Versprechen auf goldene Wirtschaftsbeziehungen eingelullt. Er hat, auch dies eine Parallele zu Hitler und Mussolini, wie einst die beiden faschistischen Diktatoren im Spanischen Bürgerkrieg in Syrien seine Waffensysteme getestet und dabei Tausende Unschuldige umgebracht. Und er hat die Krim annektiert und den Donbass destabilisiert. Und nie hat der Westen entschlossen eingegriffen. Dass Appeasement aus einer Position der Schwäche nicht wirkt, hätte eigentlich eine weitere Lehre der Geschichte sein können. Aber zu viele wollten nicht wahrhaben, was ist.
Nun ist schnelles, entschlossenes Handeln angesagt. Der Ukraine-Krieg wird langfristige Folgen weit über Osteuropa hinaus haben. Die Weltordnung wird instabiler, Gewalt hoffähiger. Doch wir können reagieren. Eine größere Unabhängigkeit von russischem Gas, Öl und Kohle sind bereits in Planung. Der dazu nötige schnellere Ausbau der erneuerbaren Energien muss notfalls gegen Widerstände durchgezogen, Planungsverfahren beschleunigt werden. Jede und jeder von uns kann seine Heizung ein paar Grad kühler einstellen. Wer kann, sollte sein Auto öfters stehen lassen, sein Haus dämmen und allgemein sparsamer mit fossilen Energien umgehen.
Vor allem aber müssen wir unsere Außen-, Sicherheits- und nicht zuletzt Europapolitik fundamental umstellen. Die angekündigten Mehrausgaben für Verteidigung sind da nur ein erster, wenn auch wichtiger Schritt. Die Idee einer Europäischen Armee muss nun in die konkrete Umsetzung gehen. Dazu werde ich später und an anderer Stelle noch etwas schreiben. Dabei gibt es keine Zeit zu verlieren, denn die europäische Sicherheit hat womöglich ein Verfallsdatum: den 20. Januar 2025. Sollte an diesem Tag Donald Trump oder ein anderer US-Republikaner ins Weiße Haus einziehen, könnte es für unseren Kontinent schwierig werden. Schließlich sind weite Teile von Trumps Partei der NATO und Europa gegenüber offen feindselig eingestellt. Und auf dieses mögliche Szenario, nämlich dass die Europäer praktisch von heute auf morgen auf eine eigene unabhängige Verteidigung angewiesen sind, müssen wir vorbereitet sein.
Bis dahin muss also der vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron in die Welt gesetzte Begriff der „europäischen Souveränität“ mit Leben gefüllt werden. Denn eines ist klar: Putin mag den Krieg in der Ukraine gewinnen oder verlieren. Doch auch unabhängig von ihm gibt es genügend Bedrohungen in der Welt, die wir als Europäerinnen und Europäer nur gemeinsam werden bewältigen können.